Epistula 1, 18

Si bene te noui, metues, liberrime Lolli,
scurrantis speciem praebere, professus amicum.
Vt matrona meretrici dispar erit atque
discolor, infido scurrae distabit amicus.
5 Est huic diuersum uitio uitium prope maius,
asperitas agrestis et inconcinna grauisque,
quae se commendat tonsa cute, dentibus atris,
dum uolt libertas dici mera ueraque uirtus.
Wenn ich dich gut kenne, dann fürchtest du, mein bester Lollius,
den Anblick eines Schmeichlers zu geben, wenn du offenkundig dich als Freund beweist.
Wie die Matrone von der Hure sich unterscheidet und anders
aussieht, so unterscheidet sich ein Freund vom durchtriebenen Schmeichler.
Ein anderer, fast noch größerer Fehler als dieser ist
die bäuerliche Rauheit, unausgewogen und schwerwiegend,
die sich mit geschorener Haut und schwarzen Zähnen empfiehlt,
aber die pure Freiheit und wahre Tugend genannt werden will.

Virtus est medium uitiorum et utrimque reductum.
10 Alter in obsequium plus aequo pronus et imi
derisor lecti sic nutum diuitis horret,
sic iterat uoces et uerba cadentia tollit,
ut puerum saeuo credas dictata magistro
reddere uel partis mimum tractare secundas;
15 alter rixatur de lana saepe caprina,
propugnat nugis armatus: ‚Scilicet, ut non
sit mihi prima fides et, uere quod placet, ut non
acriter elatrem? Pretium aetas altera sordet.‘
Die Tugend steht in der Mitte zwischen den Fehlern und ist von beiden weit entfernt.
Der eine, mehr als Recht zur Gefolgschaft geneigt, der
Spaßvogel des niedrigsten Bettes, fürchtet so des Reichen Nicken,
spricht ihm so nach dem Mund und fängt die Worte, die er von sich gibt, auf,
dass man meint, ein Junge sagte die diktierten Worte dem strengen Lehrer
auf oder ein Schauspieler spielte die zweite Rolle;
der andere streitet sich über die Ziegenwolle
und kämpft schwerbewaffnet um Kindereien: „Freilich, dass man mir nicht
gleich glaubt und dass ich, was mir wahr vorkommt, nicht
energisch herausbellen soll? Ein zweites Leben wäre mir diesen Preis nicht wert.“

Ambigitur quid enim? Castor sciat an Docilis plus,
20 Brundisium Minuci melius uia ducat an Appi.
Quem damnosa Venus, quem praeceps alea nudat,
gloria quem supra uires et uestit et unguit,
quem tenet argenti sitis inportuna famesque,
quem paupertatis pudor et fuga, diues amicus,
25 saepe decem uitiis instructior, odit et horret,
aut, si non odit, regit ac ueluti pia mater
plus quam se sapere et uirtutibus esse priorem
uolt et ait prope uera:
Um was wird nämlich gestritten? Ob Castor oder Docilis mehr könne,
ob die Straße des Minucius oder des Appius besser nach Brundisium führt.
Wen die verfluchte Venus, wen der gefährliche Würfel arm gemacht hat,
wen ein Ruhm kleidet und salbt, der größer ist als seine Fähigkeiten,
wen der unanständige Durst und Hunger nach Geld im Griff hält,
wen Scham und Flucht vor der Armut, den hasst und fürchtet
der reiche Freund, auch wenn er mit zehn Lastern mehr versehen ist,
oder, wenn er ihn nicht hasst, dann beherrscht er ihn und wie eine fromme Mutter
will er, dass er weiser sei als er selbst und in den Tugenden besser
sei und sagt fast wahr:

‚Meae (contendere noli)
stultitiam patiuntur opes; tibi paruola res est;
30 arta decet sanum comitem toga; desine mecum
certare.‘ Eutrapelus cuicumque nocere uolebat
uestimenta dabat pretiosa; beatus enim iam
cum pulchris tunicis sumet noua consilia et spes,
dormiet in lucem, scorto postponet honestum
35 officium, nummos alienos pascet, ad imum
Thraex erit aut holitoris aget mercede caballum.
Meine – fordere mich nicht heraus –
Reichtümer erdulden die Dummheit; du besitzt nur wenig;
eine knappe Toga ziert einen klugen Begleiter; höre auf, mit mir
wettzueifern.“ Eutrapelus gab, wem auch immer er schaden wollte,
kostbare Kleider; der Glückliche nämlich wird schon bald mit
seinen schönen Tuniken neue Pläne und Hoffnungen schöpfen,
in den Tag hinein schlafen, seine ehrbare Ehe einer Hure
hintanstellen, Kreditgeber reich machen, am Ende wird er
Thrazier (Gladiator) werden oder das Pferd des Gemüsemanns für Geld führen.

Arcanum neque tu scrutaberis illius umquam,
commissumque teges et uino tortus et ira;
nec tua laudabis studia aut aliena reprendes,
40 nec, cum uenari uolet ille, poemata panges.
Gratia sic fratrum geminorum, Amphionis atque
Zethi dissiluit, donec suspecta seuero
conticuit lyra.
Niemals wirst du eines seiner Geheimnisse erforschen,
und wenn dir eins anvertraut wird, behüte es, auch wenn dich Wein und Leidenschaft quälen;
und du sollst weder deine Bestrebungen loben noch die anderer Leute tadeln,
und wenn er jagen gehen will, sollst du keine Gedichte schreiben.
So löste sich nämlich die Freundschaft der beiden Zwillingsbrüder Amphion und
Zethos auf, bis die mit düsterem Blick betrachtete
Leier verstummte.

Fraternis cessisse putatur
moribus Amphion; tu cede potentis amici
45 lenibus imperiis, quotiensque educet in agros
Aetolis onerata plagis iumenta canesque,
surge et inhumanae senium depone Camenae,
cenes ut pariter pulmenta laboribus empta;
Romanis sollemne uiris opus, utile famae
50 uitaeque et membris, praesertim cum ualeas et
uel cursu superare canem uel uiribus aprum
possis.
Den Launen seines Bruders soll Amphion
nachgegeben haben; du gehorche deines mächtigen Freundes
sanften Befehlen, so oft er geschmücktes Vieh und Hunde in die Felder
führt, mit aetolischen Jagdnetzen beladen,
erhebe dich und leg die ältliche Schwäche deiner unmenschlichen Muse nieder
um die zugleich durch die Mühen verdienten Fleischspeisen zu verspeisen;
den römischen Männern ist das eine feierliche Pflicht, nützlich für Ruhm,
Leben und Körper, besonders da du ja gesund bist und
im Rennen den Hund wie an Kräften den Eber
übertreffen kannst.

Adde, uirilia quod speciosius arma
non est qui tractet; scis quo clamore coronae
proelia sustineas campestria. Denique saeuam
55 militiam puer et Cantabrica bella tulisti
sub duce qui templis Parthorum signa refigit
nunc et, siquid abest, Italis adiudicat armis.
Füge hinzu, dass es keinen gibt, der die männlichen
Waffen ansehnlicher führt; du weißt, mit welchem Gebrüll des Zuschauerkreises
du beim Kampf auf dem Marsfeld ausharrst. Schließlich hast du als
Knabe den wilden Militärdienst und die Kantabrerkriege ertragen
unter einem Führer, der die Feldzeichen den Tempeln der Parther
nun wieder stahl und, wenn noch etwas fehlt, es den italischen Waffen zuspricht.

Ac ne te retrahas et inexcusabilis absis,
quamuis nil extra numerum fecisse modumque
60 curas, interdum nugaris rure paterno:
partitur lintres exercitus, Actia pugna
te duce per pueros hostili more refertur;
aduersarius est frater, lacus Hadria, donec
alterutrum uelox Victoria fronde coronet.
65 Consentire suis studiis qui crediderit te,
fautor utroque tuum laudabit pollice ludum.
Und dass du dich nicht zurückziehst und unentschuldigt fehlst,
wenn du dich auch darum sorgst, nichts über Maß und Anstand hinaus
zu tun, machst du doch manchmal Unfug auf dem väterlichen Landgut:
das Heer verteilt die Boote, die Schlacht von Actium
wird unter deiner Führung durch die Jungen nach nach feindlicher Sitte nachgespielt;
der Feind ist dein Bruder, der See die Adria, bis
den einen oder anderen die flinke Victoria mit dem Lorbeer krönt.
Wer meint, dass du seinen Bemühungen zustimmst,
wird dir als Gönner beide Daumen drücken für dein Spiel.

Protinus ut moneam, siquid monitoris eges tu,
quid de quoque uiro et cui dicas, saepe uideto.
Percontatorem fugito; nam garrulus idem est,
70 nec retinent patulae commissa fideliter aures,
et semel emissum uolat inreuocabile uerbum.
Non ancilla tuum iecur ulceret ulla puerue
intra marmoreum uenerandi limen amici,
ne dominus pueri pulchri caraeue puellae
75 munere te paruo beet aut incommodus angat.
Um dich weiter zu mahnen, falls du einen Mahner brauchst,
was du über welchen Mann wem sagst, darauf schau oft.
Meide den, der ständig fragt; denn der ist zugleich ein Schwätzer,
und seine offenstehenden Ohren halten das Anvertraute nicht vertrauenswürdig fest,
und ist es einmal entfleucht, ist das Wort nicht zurückzuholen.
Deine Leber soll auch nicht nach einer Magd oder einem Knaben
im marmornen Haus deines verehrten Freundes sich sehnen,
damit der Herr des schönen Knaben oder des teuren Mädchens
dich nicht mit kleiner Gabe glücklich macht oder lästig ärgert.

Qualem commendes, etiam atque etiam aspice, ne mox
incutiant aliena tibi peccata pudorem.
Fallimur et quondam non dignum tradimus; ergo
quem sua culpa premet, deceptus omitte tueri,
80 ut penitus notum, si temptent crimina, serues
tuterisque tuo fidentem praesidio; qui
dente Theonino cum circumroditur, ecquid
ad te post paulo uentura pericula sentis?
Wen du empfiehlst, den sieh dir wieder und wieder an, damit nicht
bald fremde Sünden dir Scham einflößen.
Wir werden getäuscht und stellen mal einen vor, der nicht würdig ist; also
lass es, getäuscht einen zu beschützen, den seine Schuld bedrückt,
damit du den dir intensiv Bekannten, wenn ihn Anschuldigungen bedrohen, retten kannst
und den, der auf deinen Schutz vertraut, schützen kannst; wenn der
von Theons Zahn angenagt wird, ob du da nicht
schon kurz danach auch Gefahren auf dich zukommen spürst?

Nam tua res agitur, paries cum proximus ardet,
85 et neglecta solent incendia sumere uires.
Dulcia inexpertis cultura potentis amici;
expertus metuit. Tu, dum tua nauis in alto est,
hoc age, ne mutata retrorsum te ferat aura.
Denn es geht um deine Sache, wenn die Wand des Nachbarn brennt,
und Brände, die man nicht beachtet, pflegen ihre Kräfte zu sammeln.
Den Unerfahrenen erscheint der Umgang mit einem mächtigen Freund wie Süßigkeiten;
der Erfahrene fürchtet ihn. Du, solange dein Schiff auf dem Meer liegt,
kümmere dich darum, dass nicht ein drehender Wind dich zurücktreibt.

Oderunt hilarem tristes tristemque iocosi,
90 sedatum celeres, agilem nauumque remissi;
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
oderunt porrecta negantem pocula, quamuis
nocturnos iures te formidare tepores;
deme supercilio nubem; plerumque modestus
95 occupat obscuri speciem, taciturnus acerbi.
Die Traurigen hassen den Heiteren und die Heiteren den Traurigen,
die Schnellen den Ruhigen und die Ruhigen den Flinken und den Eifrigen;
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
die ausgestreckten Becher hassen den, der sie ablehnt, magst du auch
schwören, dass du die nächtliche Hitze fürchtest;
entferne die Wolke von deinem stolzen Haupt; meistens wirkt ein Bescheidener
wie ein Verdächtiger, und ein Schweigsamer wie ein Verbitterter.

Inter cuncta leges et percontabere doctos,
qua ratione queas traducere leniter aeuum,
num te semper inops agitet uexetque cupido,
num pauor et rerum mediocriter utilium spes,
100 uirtutem doctrina paret naturane donet,
quid minuat curas, quid te tibi reddat amicum,
quid pure tanquillet, honos an dulce lucellum,
an secretum iter et fallentis semita uitae.
Zwischen all diesem sollst du lesen und die Gelehrten befragen,
auf welche Weise du dein Leben mild verbringen kannst,
ob dich die immer mittellose Gier umtreibt und quält,
ob Angst und Hoffnung auf mittelmäßig nützliche Dinge,
ob die Lehre die Tugend erschafft oder ob die Natur sie gibt,
was die Sorgen vermindert, was dich dir wieder zum Freund macht,
was rein beruhigt, Ehre oder der süße Gewinn,
oder ein unsichtbarer Weg, der Schleichweg eines unbemerkten Lebens.

Me quotiens reficit gelidus Digentia riuus,
105 quem Mandela bibit, rugosus frigore pagus
quid sentire putas, quid credis, amice, precari?
‚Sit mihi quod nunc est, etiam minus, et mihi uiuam
quod superest aeui, siquid superesse uolunt di;
sit bona librorum et prouisae frugis in annum
110 copia, neu fluitem dubiae spe pendulus horae.‘
Sed satis est orare Iouem quae ponit et aufert;
det uitam, det opes; aequum mi animum ipse parabo.
So oft mich der eisige Flus Digentia erfrischt,
von dem Mandela trinkt, ein Dorf, runzlig vor Kälte,
was meinst du, was ich dann fühle, was glaubst du, Freund, worum ich bitte?
„Ich möge haben, was ich jetzt habe, auch weniger, und für mich möge ich leben,
was vom Leben noch übrig ist, wenn die Götter wollen, dass etwas übrig ist;
ich möge ein Vermögen an Büchern und für ein Jahr genug Getreidevorrat
haben, und möge ich nicht schlaff herumhängen in der Erwartung der unsicheren Stunde.“
Aber genug jetzt mit dem Betteln, was Juppiter gibt und wegnimmt;
er gebe das Leben, er gebe Reichtum; einen ausgeglichenen Geist werd ich mir selbst bereiten.

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