Epistula 1, 16

Ne perconteris, fundus meus, optime Quincti,
aruo pascat erum an bacis opulentet oliuae,
pomisne et pratis an amicta uitibus ulmo,
scribetur tibi forma loquaciter et situs agri.
5 Continui montes, ni dissocientur opaca
ualle, sed ut ueniens dextrum latus aspiciat sol,
laeuum discedens curru fugiente uaporet.
Damit du nicht fragst, ob mein Landgut, bester Quinctius,
mit seinem Acker seinen Herrn ernähren kann oder ob es ihn mit Oliven reich macht,
oder mit Obst und Rasen oder mit rebenbehangenen Ulmen,
werde ich dir wortreich Form und Lage des Landguts beschreiben.
Es gibt hier zusammenhängende Hügel, wo sie nicht durch ein schattiges
Tal getrennt werden, aber so, dass die aufgehende Sonne die rechte Seite erblickt,
die linke Seite hingegen die untergehende Sonne bestrahlt, wenn der Sonnenwagen flieht.

Temperiem laudes. Quid, si rubicunda benigni
corna uepres et pruna ferant, si quercus et ilex
10 multa fruge pecus, multa dominum iuuet umbra?
Dicas adductum propius frondere Tarentum.
Fons etiam riuo dare nomen idoneus, ut nec
frigidior Thraecam nec purior ambiat Hebrus,
infirmo capiti fluit utilis, utilis aluo.
Diese Mischung müsstest du loben. Was (würdest du sagen), wenn die fruchtbaren Dornbüsche
rötliche Kornelkirschen und Pflaumen tragen, wenn Eiche und Steineiche
mit vielen Früchten das Vieh, wenn der viele Schatten seinen Herrn erfreut?
Du würdest sagen, dass Tarent nähergekommen wäre mit seinem Laubgewächs.
Eine angemessene Quelle gibt einem Fluss auch seinen Namen, (die ist so kühl und sauber, ) dass der Ebro
nicht kühler und nicht sauberer durch Thrakien fließt,
die fließt so, dass sie einem kranken Kopf wie einem kranken Bauch hilft.

15 Hae latebrae dulces et, iam si credis, amoenae
incolumem tibi me praestant septembribus horis.
Tu recte uiuis, si curas esse quod audis.
Iactamus iampridem omnis te Roma beatum;
sed uereor, ne cui de te plus quam tibi credas
20 neue putes alium sapiente bonoque beatum,
neu, si te populus sanum recteque ualentem
dictitet, occultam febrem sub tempus edendi
dissimules, donec manibus tremor incidat unctis.
Diese süßen und, wenn du es mir glaubst, ja lieblichen Schatten
machen mich fit für die Septemberstunden mit dir.
Du lebst richtig, wenn du zu sein versuchst, was du hörst.
Wir und ganz Rom nennen dich ja schon längst alle glücklich;
aber ich fürchte, dass du jemandem anderen im Bezug auf dich mehr als dir selbst glaubst,
und dass du einen anderen Menschen für glücklich hältst als einen Weisen und Guten,
und dass, wenn dich das Volk ständig einen Gesunden und recht Wohlbehaltenen
nennt, du ein verborgenes Fieber zur Essenszeit
verheimlichst, bis die fettigen Finger zu zittern beginnen.

Stultorum incurata pudor malus ulcera celat.
25 Siquis bella tibi terra pugnata marique
dicat et his uerbis uacuas permulceat auris:
‚Tene magis saluum populus uelit an populum tu,
seruet in ambiguo qui consulit et tibi et urbi
Iuppiter‘, Augusti laudes adgnoscere possis;
30 cum pateris sapiens emendatusque uocari,
respondesne tuo, dic sodes, nomine? ‚Nempe
uir bonus et prudens dici delector ego ac tu.‘
Die schlechte Scham der Dummen verbirgt die unbehandelten Geschwüre.
Wenn einer die Kriege, die du zu Land und zu Wasser gekämpft hast,
erzählt und in seinen Worten deine aufnahmewilligen Ohren schmeichelt:
„Ob das Volk dein Wohlergehen höher schätzt als du das des Volkes,
das wird der Iuppiter im Unklaren halten, der für dich und die Stadt
sorgt“, kannst du die Belobigungen, wenn sie von Augustus kommen, wohl gelten lassen;
wenn du aber zulässt, weise und tadellos genannt zu werden,
wirst du dann antworten, sags gefälligst, mit deinem eigenen Namen? „Freilich
freue ich mich ebenso wie du, ein guter und kluger Mann genannt zu werden.“

Qui dedit hoc hodie, cras si uolet auferet, ut, si
detulerit fasces indigno, detrahet idem.
35 Pone, meum est,‘ inquit; pono tristisque recedo.
Idem si clamet furem, neget esse pudicum,
contendat laqueo collum pressisse paternum,
mordear opprobriis falsis mutemque colores?
Falsus honor iuuat et mendax infamia terret
40 quem nisi mendosum et medicandum? Vir bonus est quis?
‚Qui consulta patrum, qui leges iuraque seruat,
quo multae magnaeque secantur iudice lites,
quo res sponsore et quo causae teste tenentur.‘
Wer das heute gegeben hat, wird es morgen, wenn er will, wegnehmen, ebenso wie er,
wenn er die Rutenbündel einem Unwürdigen gegeben hätte, ihm die wieder wegnehmen würde.
„Gib es zurück, es ist meines“, sagt er; ich gebe es zurück und trete traurig zurück.
Wenn aber derselbe Mensch mich als Dieb verschreit, mir den Anstand abspricht,
wenn er behauptet, ich hätte meinem Vater einen Strick um den Hals gelegt,
knirsche ich dann unter den falschen Anschuldigungen mit den Zähnen und wechsle die Farbe?
Wen erfreut falsche Ehre, wen erschreckt erfundene Anschuldigung
wenn nicht den Lügner oder den Kranken? Wer ist ein guter Mann?
„Der, der die Beschlüsse der Väter, die Gesetze und Vorschriften bewahrt,
der als Richter viele große Konflikte beilegt,
durch dessen Bürgschaft Dinge bewahrt und durch dessen Zeugnis Prozesse gewonnen werden.“

Sed uidet hunc omnis domus et uicinia tota
45 introrsum turpem, speciosum pelle decora.
‚Nec furtum feci nec fugi,‘ si mihi dicat
seruos: ‚Habes pretium, loris non ureris‘, aio.
‚Non hominem occidi.‘ ‚Non pasces in cruce coruos.‘
‚Sum bonus et frugi.‘ Renuit negitatque Sabellus.
50 Cautus enim metuit foueam lupus accipiterque
suspectos laqueos et opertum miluus hamum.
Aber jedes Haus und die ganze Nachbarschaft sieht, dass dieser
innerlich hässlich ist, obwohl er äußerlich ansehnlich ist mit seiner schönen Haut.
„Ich habe nichts gestohlen und bin nicht weggelaufen“, wenn mir das ein
Sklave sagen würde, da würde ich sagen: „Du hast deine Belohnung, die Peitsche wird dich nicht quälen.“
„Ich habe keinen Menschen getötet.“ „Du wirst nicht am Kreuz die Krähen füttern.“
„Ich bin gut und brav.“ Der Sabiner nickt und lehnt erneut ab.
Der vorsichtige Wolf fürchtet nämlich die Fallgrube und der Falke
die verdächtigen Stricke und der Meerweihe den versteckten Angelhaken.

Oderunt peccare boni uirtutis amore;
tu nihil admittes in te formidine poenae;
sit spes fallendi, miscebis sacra profanis.
55 Nam de mille fabae modiis cum subripis unum,
damnum est, non facinus mihi pacto lenius isto.
Vir bonus, omne forum quem spectat et omne tribunal,
quandocumque deos uel porco uel boue placat:
‚Iane pater!‘ clare, clare cum dixit: ‚Apollo!‘
60 labra mouet, metuens audiri: ‚Pulchra Lauerna,
da mihi fallere, da iusto sanctoque uideri,
noctem peccatis et fraudibus obice nubem.‘
Die Guten verabscheuen die Sünden wegen ihrer Liebe zur Tugend;
du wirst nichts an dich kommen lassen aus Furcht vor Strafe;
wenn die Hoffnung hast, davonzukommen, dann wirst du deine Heiligkeit mit Pöbelhaftem vermischen.
Denn wenn du von tausend Scheffeln Bohnen nur einen entwendest,
dann ist der Schaden (zwar) kleiner, aber das Verbrechen für mich deswegen nicht.
Ein guter Mensch, den das ganze Forum anschaut und das ganze Tribunal,
wann immer er die Götter mit Schweine- oder Rindfleisch besänftigen will,
der ruft laut, laut aus: „Vater Ianus! Apollo!“
und er bewegt nur die Lippen aus Angst, gehört zu werden, „Schöne Laverna,
lass mich betrügen, lass mich gerecht und heilig wirken,
lege Nacht um meine Sünden und Wolken um meine Betrügereien.“

Qui melior seruo, qui liberior sit auarus,
in triuiis fixum cum se demittit ob assem,
65 non uideo; nam qui cupiet, metuet quoque, porro
qui metuens uiuet, liber mihi non erit umquam.
Perdidit arma, locum uirtutis deseruit, qui
semper in augenda festinat et obruitur re.
Wie einer besser als ein Sklave ist, wie ein Geiziger freier ist,
wenn er sich am Scheideweg nach einer im Schlamm klebenden Münze bückt,
sehe ich nicht; denn wer begehrt, der fürchtet auch, und wer
in Furcht lebt, der wird meines Erachtens niemals frei sein.
Es hat seine Waffen verloren und den Ort der Tugend verlassen, wer
immer dem Geldgewinn nacheilt und im Geld ertrinkt.

Vendere cum possis captiuum, occidere noli;
70 seruiet utiliter; sine pascat durus aretque,
nauiget ac mediis hiemet mercator in undis,
annonae prosit, portet frumenta penusque.
Vir bonus et sapiens audebit dicere: ‚Pentheu,
rector Thebarum, quid me perferre patique
75 indignum coges?‘ ‚Adimam bona.‘ ‚Nempe pecus, rem,
lectos, argentum; tollas licet.‘ ‚In manicis et
compedibus saeuo te sub custode tenebo.‘
Wenn du einen Gefangenen verkaufen kannst, sollst du ihn nicht töten;
er wird dir nützlich sein; lass zu, dass ein Ausdauernder Schafe weidet oder den Acker pflügt,
dass ein Geschäftstüchtiger zur See fährt, tief auf dem Meer den Winter verbringt,
die Getreideversorgung verbessert, Getreide und Lebensmittel bringt.
Ein guter und weiser Mann wird es wagen, zu sagen: „Pentheus,
Herrscher von Theben, was wirst du mich zwingen, unverdient zu
ertragen und zu erleidgen?“ „Deinen Besitz nehm ich weg.“ „Freilich das Vieh, das Vermögen,
Möbel, Geld; nimm’s nur fort.“ „In Handschellen und Fußfesseln
werde ich dich unter einem gemeinen Aufseher festhalten.“

‚Ipse deus, simul atque uolam, me soluet.‘ Opinor,
hoc sentit: ‚Moriar‘. Mors ultima linea rerum est.
„Derselbe Gott wird mich, sowie ich es wünsche, befreien.“ Ich glaube,
das bedeutet: „Ich werde sterben.“ Der Tod ist die letzte Grenze aller Dinge.

Ein Kommentar

  1. Lese gerade die epistulae wieder ein Mal. Dabei hat mir die Übersetzung als Korrektiv sehr geholfen. Gibt es einen guten e-Kommentar zu den Briefen?

Schreib einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.