De otio

Senecas Dialog „De otio“ ist nur teilweise überliefert. Anfang und Schluss fehlen.

I. 1. * * * nobis magno consensu uitia commendant. Licet nihil aliud quod sit salutare temptemus, proderit tamen per se ipsum secedere: meliores erimus singuli.
Quid quod secedere ad optimos uiros et aliquod exemplum eligere ad quod uitam derigamus licet? Quod <nisi> in otio non fit: tunc potest optineri quod semel placuit, ubi nemo interuenit qui iudicium adhuc inbecillum populo adiutore detorqueat; tunc potest uita aequali et uno tenore procedere, quam propositis diuersissimis scindimus.
I. 1. Die Leute raten uns mit großer Geschlossenheit zu falschen Dingen. Wenn wir auch freilich nichts anderes, was was uns gesund macht, versuchen, so wird es dennoch nützen, sich für sich selbst zurückzuziehen: wir werden allein besser sein.
Ist es nicht vielmehr erlaubt, sich zu den besten Männern zurückzuziehen und ein Beispiel auszuwählen, nach dem wir das Leben ausrichten wollen? Dies wird nicht getan, wenn man nicht über Freizeit verfügt: dann kann das ausgeübt werden, was einem einmal gefallen hat, sofern niemand einschreitet, der die unsichere Entscheidung mit der Unterstützung des Pöbels ablenkt; dann kann das Leben in gleichmäßigem, einheitlichem Lauf voranschreiten, welches wir durch widersprüchliche Wünsche behindern.
2. Nam inter cetera mala illud pessimum est, quod uitia ipsa mutamus. Sic ne hoc quidem nobis contingit, permanere in malo iam familiari. Aliud ex alio placet uexatque nos hoc quoque, quod iudicia nostra non tantum praua sed etiam leuia sunt: fluctuamur aliudque ex alio comprendimus, petita relinquimus, relicta repetimus, alternae inter cupiditatem nostram et paenitentiam uices sunt. Denn unter den übrigen schlechten Dingen ist jenes das schlimmste, dass wir die Fehler selbst verwechseln. So gelingt es uns jedenfalls nicht, bei einem bereits vertrauten Übel zu bleiben. Es gefällt uns eins nach dem anderen und auch das quält uns, dass unsere Urteile nicht nur so verkehrt, sondern auch so flüchtig sind: wir werden umhergetrieben und nehmen eins nach dem andern in Angriff, verlassen das, was wir haben wollten, wollen das, was wir verlassen haben, zurück, und abwechselnd werden wir zwischen unserer Begierge und unserer Reue hin und her gerissen.
3. Pendemus enim toti ex alienis iudiciis et id optimum nobis uidetur quod petitores laudatoresque multos habet, non id quod laudandum petendumque est, nec uiam bonam ac malam per se aestimamus sed turba uestigiorum, in quibus nulla sunt redeuntium. Denn wir hängen vollständig an fremden Entschiedungen und es scheint uns am besten, was viele Neider und Bewunderer findet, nicht das, was man bewundern und wollen sollte, und wir prüfen nicht, ob ein Weg für sich genommen ein guter oder schlechter ist, sondern wir prüfen die Zahl der Fußspuren, von denen keine zurückgekommen sind.
4. Dices mihi: ‚quid ais, Seneca? deseris partes? Certe Stoici uestri dicunt: „usque ad ultimum uitae finem in actu erimus, non desinemus communi bono operam dare, adiuuare singulos, opem ferre etiam inimicis senili manu. Nos sumus qui nullis annis uacationem damus et, quod ait ille uir disertissimus,
canitiem galea premimus;
nos sumus apud quos usque eo nihil ante mortem otiosum est ut, si res patitur, non sit ipsa mors otiosa.“ Quid nobis Epicuri praecepta in ipsis Zenonis principiis loqueris? Quin tu bene gnauiter, si partium piget, transfugis potius quam prodis?‘
Nun magst du mir sagen: „Was sprichst du da, Seneca? Verlässt du deine Philosophenschule? Freilich sagen doch deine Stoiker: ‚Bis zum letzten Ende des Lebens werden wir in unserer Rolle bleiben, wir lassen für das gemeinsame Gut nicht davon ab, uns Mühe zu geben, einzelnen zu helfen, auch den Feinden Hilfe zu bringen, auch wenn die bringenden Hände schon die eines Greises sind. Wir sind Leute, die niemals Ruhe geben und, wie der berühmte Dichter sagt: mit dem Helm bedecken wir das graue Haar; wir gehören zu denen, wo es vor dem Tod nichts an Freizeit gibt und für die sogar, sofern es die Sache erlaubt, der Tod selbst nicht ruhig sein soll.‘ Was erläuterst du mir die Vorschriften Epikurs im Zusammenhang mit den Lehren Zenons? Willst du nicht lieber ganz rührig überlaufen als Verrat zu üben, wenn dich deine Schule verdrießt?“
5. Hoc tibi in praesentia respondebo: ’numquid uis amplius quam ut me similem ducibus meis praestem? Quid ergo est? non quo miserint me illi, sed quo duxerint ibo.‘ Dies antworte ich dir sogleich: „Willst du etwa irgendetwas lieber, als dass ich mich meinen Führern als ähnlich erweise? Was ist also? Nicht wohin sie mich schickten, sondern wohin sie mich führen, dahin folge ich.“
II. 1. Nunc probabo tibi non desciscere me a praeceptis Stoicorum; nam ne ipsi quidem a suis desciuerunt, et tamen excusatissimus essem, etiam si non praecepta illorum sequerer sed exempla. Hoc quod dico in duas diuidam partes:
primum, ut possit aliquis uel a prima aetate contemplationi ueritatis totum se tradere, rationem uiuendi quaerere atque exercere secreto;
2. deinde, ut possit hoc aliquis emeritis stipendiis, profligatae aetatis, iure optimo facere et ~ad alios actus animos~ referre, uirginum Vestalium more, quae annis inter officia diuisis discunt facere sacra et cum didicerunt docent.
II. Nun werde ich dir beweisen, dass ich nicht von den Vorschriften der Stoiker abweiche; denn sie selbst sind jedenfalls nicht von ihren Lehren abgewichen, und dennoch wäre es völlig rechtmäßig, wenn ich nicht ihren Vorschriften, sondern ihren Beispielen folgen würde. Das, was ich sage, teile ich in zwei Teile auf:
erstens, dass sich wohl jeder vom ersten Lebensjahr an der Betrachtung der Wahrheit gänzlich widmen kann, ebenso der Suche nach dem Sinn des Lebens und dies im Geheimen ausüben kann;
zweitens, dass jeder dies, nachdem er seine Pflichten erfüllt hat, im weit vorgerückten Alter mit dem besten Recht tun kann und diese Abläufe anderen Geistern weitergeben kann, nach der Sitte des vestalischen Jungfern, deren Jahre den Aufgaben nach aufgeteilt sind, weil sie erst lernen, die Opferdienste zu verrichten, und dann, wenn sie das gelernt haben, es anderen beibringen.
III. 1. Hoc Stoicis quoque placere ostendam, non quia mihi legem dixerim nihil contra dictum Zenonis Chrysippiue committere, sed quia res ipsa patitur me ire in illorum sententiam, quoniam si quis semper unius sequitur, non in curia sed in factione est. Vtinam quidem iam tenerentur omnia et in aperto et confesso ueritas esset nihilque ex decretis mutaremus! nunc ueritatem cum eis ipsis qui docent quaerimus. III. 1. Dass dies auch den Stoikern gefällt, will ich zeigen; nicht weil ich wie vor einem Gericht sagen will, dass ich nichts gegen die Lehre des Zenon oder des Chrysippus begangen habe, sondern weil die Sache selbst erlaubt, dass ich auf ihre Meinung zu sprechen komme, da ja jemand, der immer der eines einzelnen folgt, nicht in einer Curie, sondern in einer Partei ist. Würde doch schon alles gleich verstanden und die Wahrheit offen und bekannt! Würden wir doch nichts an unseren Prinzipien ändern! Nun suchen wir die Wahrheit gemeinsam mit jenen, die sie lehren.
2. Duae maxime et in hac re dissident sectae, Epicureorum et Stoicorum, sed utraque ad otium diuersa uia mittit. Epicurus ait: ’non accedet ad rem publicam sapiens, nisi si quid interuenerit‘; Zenon ait: ‚accedet ad rem publicam, nisi si quid inpedierit.‘ Zwei gespaltene Seiten streiten sich um diese Sache, die der Epikureer und die der Stoiker, aber jede von beiden zeigt unterschiedliche Wege zur Freizeit. Epikur sagt: „Der Weise hat bei der Politik nichts verloren, außer, wenn ihm etwas entgegensteht.“ Zenon sagt: „Er soll in die Politik gehen, außer, wenn ihn etwas hindert.“
3. Alter otium ex proposito petit, alter ex causa; causa autem illa late patet. Si res publica corruptior est quam <ut> adiuuari possit, si occupata est malis, non nitetur sapiens in superuacuum nec se nihil profuturus inpendet; si parum habebit auctoritatis aut uirium nec illum erit admissura res publica, si ualetudo illum inpediet, quomodo nauem quassam non deduceret in mare, quomodo nomen in militiam non daret debilis, sic ad iter quod inhabile sciet non accedet. Der eine fordert die Freizeit von vornherein, der andere nach einer Begründung; diese Begründung aber ist im Versteckten offensichtlich. Wenn die Politik so verdorben ist, dass man ihr nicht mehr helfen kann, wenn sie mit Schurken so durchsetzt ist, wird der Weise sich nicht aussichtslos bemühen und wird sich nicht ohne Aussichten aufreiben; wenn er aber zu wenig Autorität oder Energie haben wird oder ihn die Politik nicht akzeptiert, wenn ihn die Gesundheit hindert, dann wird er eben so, wie er ein kaputtes Schiff nicht ins Meer absegeln ließe, oder wie er seinen Namen nicht als Krüppel beim Militär einschreiben würde, eben auf diese Weise wird er den Weg nicht beschreiten, von dem er weiß, dass dieser ungeeignet ist.
4. Potest ergo et ille cui omnia adhuc in integro sunt, antequam ullas experiatur tempestates, in tuto subsistere et protinus commendare se bonis artibus et inlibatum otium exigere, uirtutium cultor, quae exerceri etiam quietissimis possunt. Es kann also auch dieser, für den alle Dinge bis hierhin im Reinen liegen, bevor er irgendwelche Stürme erfährt, sich im Sicheren aufhalten und sich weiterhin den schönen Künsten widmen und ungeschmälert seiner Freizeit nachgehen als ein Verehrer der Tugenden, die auch durch die Zurückgezogensten ausgeübt werden können.
5. Hoc nempe ab homine exigitur, ut prosit hominibus, si fieri potest, multis, si minus, paucis, si minus, proximis, si minus, sibi. Nam cum se utilem ceteris efficit, commune agit negotium. Quomodo qui se deteriorem facit non sibi tantummodo nocet sed etiam omnibus eis quibus melior factus prodesse potuisset, sic quisquis bene de se meretur hoc ipso aliis prodest quod illis profuturum parat. Dies wird doch freilich vom Menschen verlangt, dass er den anderen Menschen nützt, wenn es möglich ist, vielen, wenn wenigeren, dann wenigen, wenn noch wenigeren, dann seinen Nächsten, wenn auch das nicht geht, sich selbst. Denn wenn wenn er sich zu einem für andere nützlichen Menschen bildet, dann betreibt er eine gemeinnützige Aufgabe. Auf die Weise jemand, der sich schlechter macht, sich nicht nur selbst schadet, sondern auch all jenen, denen er, hätte er sich besser gemacht, hätte nutzen können, so nützt jeder, der sich um sich selbst wohlverdient macht, durch eben dies den anderen, weil er das, was ihnen nützen wird, vorbereitet.
IV. 1. Duas res publicas animo complectamur, alteram magnam et uere publicam qua di atque homines continentur, in qua non ad hunc angulum respicimus aut ad illum sed terminos ciuitatis nostrae cum sole metimur, alteram cui nos adscripsit condicio nascendi; haec aut Atheniensium erit aut Carthaginiensium aut alterius alicuius urbis quae non ad omnis pertineat homines sed ad certos. Quidam eodem tempore utrique rei publicae dant operam, maiori minorique, quidam tantum minori, quidam tantum maiori. Zwei Arten von Gemeinwesensbegriff umfassen wir im Geiste:
das eine und wahrhaftige Gemeinwesen, durch welches Götter und Menschen zusammengehalten werden, in dem wir nicht in diese oder jene Ecke schauen, sondern die Grenzen unseres Gemeinwesens an der Sonne messen,
das andere ist der Staat, dem uns die Umstände der Geburt zuteilen; ob dies nun der athenische oder karthagische oder der irgendeiner anderen Stadt sei, er zieht uns nicht zu allen Menschen hin, sondern nur zu bestimmten. Zur selben Zeit bemühen sich gewisse Leute um beide Arten von Gemeinwesen, um den Höheren und um den Niedrigeren, teils nur um den Niedrigeren, teils nur um den Höheren.
2. Huic maiori rei publicae et in otio deseruire possumus, immo uero nescio an in otio melius, ut quaeramus
quid sit uirtus, una pluresne sint, natura an ars bonos uiros faciat;
unum sit hoc quod maria terrasque et mari ac terris inserta complectitur, an multa eiusmodi corpora deus sparserit;
continua sit omnis et plena materia ex qua cuncta gignuntur, an diducta et solidis inane permixtum;
quae sit dei sedes, opus suum spectet an tractet, utrumne extrinsecus illi circumfusus sit an toti inditus;
inmortalis sit mundus an inter caduca et ad tempus nata numerandus. Haec qui contemplatur, quid deo praestat? ne tanta eius opera sine teste sint.
Diesem höheren Gemeinwesen können wir auch in der Freizeit dienen, anscheinend sogar in der Freizeit umso mehr und besser, wenn wir fragen,
was die Tugend sei, ob es nicht mehrere geben könnte, ob die Natur oder die Kunst die Männer gut macht;
ob das, was Meer und Land und das Leben im Meer und an Land verbindet, einzigartig ist oder ob eine Gottheit viele solche Gestalten verteilt hat;
ob die stofflichen Dinge, aus denen alles entsteht, zusammenhängend und geschlossen sind, oder ob sie auseinandergedehnt und Leerräume mit Stofflichem vermischt sind;
wo der Sitz des Göttlichen sei, ob er sein Werk nur betrachtet oder es auch lenkt, ob es von ihm äußerlich umflossen werde oder ob sich es ganz im Inneren befindet;
ob die Welt unsterblich sei oder zu den zerfallenden und befristet geborenen Sachen gezählt werden müsse. Was erweist derjenige dem Gott, der diese Dinge erwägt? Dass seine so großen Werke nicht ohne Zeuge sind.
V. 1. Solemus dicere summum bonum esse secundum naturam uiuere: natura nos ad utrumque genuit, et contemplationi rerum et actioni. Nunc id probemus quod prius diximus. Quid porro? hoc non erit probatum, si se unusquisque consuluerit quantam cupidinem habeat ignota noscendi, quam ad omnis fabulas excitetur? Wir pflegen zu sagen, dass es das höchste Gut sei, nach der Natur zu leben: die Natur hat uns für beides erschaffen, für die Erwägung der Dinge und für die Tat. Nun lass uns prüfen, was wir wichtiger nennen. Was also? Wurde das nicht bereits geprüft, wenn sich ein jeder mit sich selbst berät, wie viel Lust er hat, Unbekanntes zu lernen, und inwiefern seine Wissbegierde von all den Gesprächen angezogen wird?
2. Nauigant quidam et labores peregrinationis longissimae una mercede perpetiuntur cognoscendi aliquid abditum remotumque. Haec res ad spectacula populos contrahit, haec cogit praeclusa rimari, secretiora exquirere, antiquitates euoluere, mores barbararum audire gentium. Sie schwanken freilich und erdulden standhaft die Mühen der schier unendlichen Reise nach dem einen Gut der Erkenntnis von irgendetwas Entrücktem und Hochvergeistigten. Diese Sache zieht die Massen zur großen Bewunderungsrunde an, diese bringt sie dazu, verschlossene Dinge zu durchforschen, Verborgenes zu untersuchen, uraltes Zeug abzustauben, und sich die Bräuche der Barbarenvölker anzuhören.
3. Curiosum nobis natura ingenium dedit et artis sibi ac pulchritudinis suae conscia spectatores nos tantis rerum spectaculis genuit, perditura fructum sui, si tam magna, tam clara, tam subtiliter ducta, tam nitida et non uno genere formosa solitudini ostenderet. Einen Anlage zur Neugier gab uns die Natur und erzeugte als Betrachter für ihre so großen Schauspiele der Dinge, weil sie um ihre Künste und ihre Schönheit wusste, für uns würde die Lust verlieren, wenn so sie große, so schöne, so durchdacht hervorgebrachte, so glänzende und nicht nur in einer Hinsicht hervorragende Dinge der Einsamkeit zeigen müsste.
4. Vt scias illam spectari uoluisse, non tantum aspici, uide quem nobis locum dederit: in media nos sui parte constituit et circumspectum omnium nobis dedit;
nec erexit tantummodo hominem, sed etiam habilem contemplationis factura, ut ab ortu sidera in occasum labentia prosequi posset et uultum suum circumferre cum toto, sublime fecit illi caput et collo flexili inposuit;
deinde sena per diem, sena per noctem signa producens nullam non partem sui explicuit, ut per haec quae optulerat oculis eius cupiditatem faceret etiam ceterorum.
Damit du weißt, dass jene betrachtet werden und nicht nur angesehen werden wollte, sieh, welch einen Ort sie uns gab: uns schuf sie in ihrer Mitte und gab uns von allen Dingen das Interesse an der Umgebung;
sie erschuf den Menschen nicht nur, sondern um ihn geschickt im Denken zu machen, damit er vom Aufgang bis zum Untergang den Lauf der Sterne verfolgen kann und seinen Blick überallhin umherschweifen lassen kann, deshalb schuf sie ihm einen emporragenden Kopf und verlieh ihm einen beweglichen Nacken;
dann schuf sie je sechs Zeichen für den Tag und sechs für die Nacht, nicht ohne einen Teil von sich selbst vorzuführen, damit sie durch das, was sie zeigte, den Augen auch Neugier auf die restlichen Dinge verleihen würde.
5. Nec enim omnia nec tanta uisimus quanta sunt, sed acies nostra aperit sibi inuestigandi uiam et fundamenta uero iacit, ut inquisitio transeat ex apertis in obscura et aliquid ipso mundo inueniat antiquius: unde ista sidera exierint;
quis fuerit uniuersi status, antequam singula in partes discederent; quae ratio mersa et confusa diduxerit; quis loca rebus adsignauerit, suapte natura grauia descenderint, euolauerint leuia, an praeter nisum pondusque corporum altior aliqua uis legem singulis dixerit; an illud uerum sit quo maxime probatur homines diuini esse spiritus, partem ac ueluti scintillas quasdam astrorum in terram desiluisse atque alieno loco haesisse.
Wir haben weder alle noch so viele Dinge gesehen, wie es gibt, sondern unser Auge eröffnet sich selbst einen Weg, um sie herauszufinden, und legt in Wahrheit die Grundlagen, damit eine Untersuchung vom Offensichtlichen zum Verborgenen voranschreite und irgendetwas Älteres für die Welt finde: woher kommen die Sterne;
welcher war der Zustand des Universums, bevor einzelne Dinge in Teilen verschwanden; welche höhere Vernunft brachte Ordnung in Verworrenes und Versunkenes; wer teilte den Dingen ihre Orte zu, ob die schweren Dinge durch ihre Beschaffenheit herabsinken und die leichten Dinge emporschweben, oder ob, außer dem Druck und dem Gewicht ihrer Körper, irgendeine höhere Gewalt den einzelnen Dingen ihre Verfassung zusprach; ob dies die Wahrheit ist, wodurch am ehesten bewiesen wird, dass die Menschen von heiligem Verstande sind: dass ein Teil, gleichsam wie gewisse Funken der Sterne, auf die Erde herabgesprungen sind und zuvor an einem anderen Ort festgehangen haben.
6. Cogitatio nostra caeli munimenta perrumpit nec contenta est id quod ostenditur scire: ‚illud‘ inquit ’scrutor quod ultra mundum iacet, utrumne profunda uastitas sit an et hoc ipsum terminis suis cludatur; qualis sit habitus exclusis, informia et confusa sint, [an] in omnem partem tantundem loci optinentia, an et illa in aliquem cultum discripta sint; huic cohaereant mundo, an longe ab hoc secesserint et hic in uacuo uolutetur; indiuidua sint per quae struitur omne quod natum futurumque est, an continua eorum materia sit et per totum mutabilis; utrum contraria inter se elementa sint, an non pugnent sed per diuersa conspirent.‘ Unser Geist durchbricht den Schutz des Himmels und begnügt sich nicht dmait, das, was ihr gezeigt wird, zu verstehen: „Dies“, sagt er, „erforsche ich, was jenseits der Welt liegt, ob da eine weit ausgedehnte Ödnis liegt oder ob auch dies durch seine Grenzen umschlossen wird; was für eine äußere Erscheinung diese fernen Dinge besitzen, ob sie formlos und verworren sind, oder ob jeder Teil an diesem Ort dieselbe Beschaffenheit besitzt, oder ob jene Dinge nach irgendeiner Ordnung unterschiedlich beschaffen sind; ob die Dinge mit jener Welt zusammenhängen, oder ob sie weit von ihr entfernt sind und hier im Leeren umhertreiben; ob diese Dinge untrennbar sind, durch die alles aufgebaut ist, was geboren ist und existieren wird, oder ob sie aus einer unmittelbar verbundenen und im Ganzen wandelbaren Materie bestehen; ob die Elemente untereinander im Streit stehen oder ob sie nicht gegeneinander ankämpfen, sondern sich durch ihre Unterschiedeim Einklang stehen.“
7. Ad haec quaerenda natus, aestima quam non multum acceperit temporis, etiam si illud totum sibi uindicat. Qui licet nihil facilitate eripi, nihil neglegentia patiatur excidere, licet horas suas auarissime seruet et usque in ultimum aetatis humanae terminum procedat nec quicquam illi ex eo quod natura constituit fortuna concutiat, tamen homo ad inmortalium cognitionem nimis mortalis est. Geboren, um dies zu erforschen, betrachte, wie wenig Zeit einer empfangen hat, selbst wenn er diese vollständig für sich in Anspruch nimmt. Wer freilich hinehmen kann, dass ihm durch seine Willfährigkeit nichts davon entrissen wird, dass nichts durch Nachlässigkeit verloren geht, seine Lebenszeit auf geizigste Weise behütet und bis an das äußerste Ende des menschlichen Lebensalters voranschreit und dem das Schicksal nichts von dem, was die Natur schuf, entgegenwirft, ein solcher Mensch ist dennoch zu sterblich für die Erkenntnis des Unsterblichen.
8. Ergo secundum naturam uiuo si totum me illi dedi, si illius admirator cultorque sum. Natura autem utrumque facere me uoluit, et agere et contemplationi uacare: utrumque facio, quoniam ne contemplatio quidem sine actione est. Also lebe ich gemäß der Natur, wenn ich mich ihr ganz verschrieben habe, wenn ich sie bewundere und ihr Freund bin. Aber die Natur wollte, dass ich beides tue, und so tue ich beides – handeln und Freizeit für Betrachtungen haben – da ja eine Betrachtung sowieso nie ohne Handlung ist.
VI. 1. ‚Sed refert‘ inquis ‚an ad illam uoluptatis causa accesseris, nihil aliud ex illa petens quam adsiduam contemplationem sine exitu; est enim dulcis et habet inlecebras suas.‘ Aduersus hoc tibi respondeo: aeque refert quo animo ciuilem agas uitam, an semper inquietus sis nec tibi umquam sumas ullum tempus quo ab humanis ad diuina respicias. „Aber es ist wichtig“, sagst du, „ob du wegen der Begierde zu ihr gekommen bist und nichts anderes von ihr forderst als beharrliche Erwägungen ohne Ende; sie ist nämlich süß und hat ihre Verlockungen.“ Darauf antworte ich dir: es ist ebenso wichtig, mit welchem Mut du das bürgerliche Leben führst, ob du immer unruhig bist und dir niemals irgendwelche Zeit nimmst, um vom Menschlichen zum Übersinnlichen zurückzublicken.
2. Quomodo res adpetere sine ullo uirtutum amore et sine cultu ingeni ac nudas edere operas minime probabile est (misceri enim ista inter se et conseri debent), sic inperfectum ac languidum bonum est in otium sine actu proiecta uirtus, numquam id quod didicit ostendens. Wie es kaum anerkennenswert ist, die Dinge ohne irgendwelche Liebe zu den Tugenden und ohne Übung des Geistes anzustehen und ihre Bemühungen bloß zu konsumieren (denn jene Dinge müssen untereinander vermischt und zusammengefasst werden), so ist die Tugend in Muße und ohne Aktion, die niemals zeigt, was sie lernte, wie weggeworfen, ein unvollständiges und schlaffes Gut.
3. Quis negat illam debere profectus suos in opere temptare, nec tantum quid faciendum sit cogitare sed etiam aliquando manum exercere et ea quae meditata est ad uerum perducere? Quodsi per ipsum sapientem non est mora, si non actor deest sed agenda desunt, ecquid illi secum esse permittes? Wer würde leugnen, dass es, wenn man etwas vorangekommen ist, nötig ist, dass man die Tugend auch in die Tat umsetzt, und nicht nur erwägt, was man tun muss, sondern es auch einmal praktisch versucht und das, was man überdacht hat, auch in der Realität fortzusetzt? Wenn aber die Verzögerung nicht durch den Weisen selbst geschieht, wenn nicht der Ausführende fehlt, sondern die auszuführenden Dinge, erlaubst du ihm dann, sich mit sich selbst zu beschäftigen?
4. Quo animo ad otium sapiens secedit? ut sciat se tum quoque ea acturum per quae posteris prosit. Nos certe sumus qui dicimus et Zenonem et Chrysippum maiora egisse quam si duxissent exercitus, gessissent honores, leges tulissent; quas non uni ciuitati, sed toti humano generi tulerunt. Quid est ergo quare tale otium non conueniat uiro bono, per quod futura saecula ordinet nec apud paucos contionetur sed apud omnis omnium gentium homines, quique sunt quique erunt? In welcher Absicht zieht sich der Weise zur Muße zurück? Damit er weiß, dass er dann auch jene Dinge tun wird, durch welche er den Nachkommen nützt. Ich bin freilich einer, der sagt, dass Zenon und Chrysipp größere Dinge getan haben, als wenn sie ein Heer geführt hätten, politisch aktiv gewesen oder Gesetze vorgebracht hätten; diese haben sie nicht einer Bürgerschaft, sondern dem ganzen Menschengeschlecht gebracht. Was also ist der Grund, weswegen solche Muße sich für einen guten Mann nicht gehört, durch die er für künftige Jahrhunderte Regeln aufstellt und nicht bei wenigen in einer Versammlung spricht, sondern beim allen Menschen aller Geschlechter, welche es gibt und geben wird?
5. Ad summam, quaero an ex praeceptis suis uixerint Cleanthes et Chrysippus et Zenon. <Non> dubie respondebis sic illos uixisse quemadmodum dixerant esse uiuendum: atqui nemo illorum rem publicam administrauit. ‚Non fuit‘ inquis ‚illis aut ea fortuna aut ea dignitas quae admitti ad publicarum rerum tractationem solet.‘ Sed idem nihilominus non segnem egere uitam: inuenerunt quemadmodum plus quies ipsorum hominibus prodesset quam aliorum discursus et sudor. Ergo nihilominus hi multum egisse uisi sunt, quamuis nihil publice agerent. Zuletzt frage ich, ob Cleanthes und Chrysipp und Zenon nach ihren eigenen Vorschriften lebten. Zweifelnd wirst du antworten, dass sie so gelebt haben, wie sie sagten, dass man leben müsse: aber niemand verwaltete ihren Staat. „Sie besaßen,“ sagst du, „kein solches Glück und keine solche Autorität, welche ihnen erlaubt hätte, sich mit den Staatsangelegenheiten zu befassen.“ Aber nichtsdestoweniger führen sie ebenso kein faules Leben: sie fanden heraus, auf welche Weise ihre Ruhe den Menschen mehr nützte als das Umherlaufen und der Schweiß anderer Leute. Also scheinen sie nichtsdestoweniger vieles getan zu haben, so wenig sie auch im Öffentlichen tätig waren.
VII. 1. Praeterea tria genera sunt uitae, inter quae quod sit optimum quaeri solet: unum uoluptati uacat, alterum contemplationi, tertium actioni. Primum deposita contentione depositoque odio quod inplacabile diuersa sequentibus indiximus, uideamus ut haec omnia ad idem sub alio atque alio titulo perueniant: nec ille qui uoluptatem probat sine contemplatione est, nec ille qui contemplationi inseruit sine uoluptate est, nec ille cuius uita actionibus destinata est sine contemplatione est. Außerdem gibt es drei Arten des Lebens, zwischen denen für gewöhnlich ermittelt wird, welche die beste sei: die erste ist frei von Lust, die zweite von Erwägung, die dritte von Handlung. Zunächst wollen wir (nachdem wir Streiterei und Hass, von dem wir erkennen, dass er bei den Anhängern der verschiedenen Ansichten unversöhnlich ist, abgelegt haben) sehen, dass all diese Ansichten unter einer anderen und noch einer anderen Bezeichnung kursieren: weder ist jener, der die Lust billigt, frei von Erwägung, noch jener, der sich an der Erwägung orientiert, frei von Lust, und auch nicht der, dessen Leben den Handlungen gewidmet ist, ist frei von Erwägung.
2. ‚Plurimum‘ inquis ‚discriminis est utrum aliqua res propositum sit an propositi alterius accessio.‘ Sit sane grande discrimen, tamen alterum sine altero non est: nec ille sine actione contemplatur, nec hic sine contemplatione agit, nec ille tertius, de quo male existimare consensimus, uoluptatem inertem probat sed eam quam ratione efficit firmam sibi; ita et haec ipsa uoluptaria secta in actu est. „Der größte Unterschied“, sagst du, „der besteht darin, ob eine Sache das Hauptthema ist oder eine Folge eines anderen Themas.“ Freilich mag das ein großer Unterschied sein; dennoch gibt es das eine nicht ohne das andere: weder erwägt jener ohne Handlung, noch handelt jener ohne Erwägung, und auch jener dritte, von dem wir einstimmig der Ansicht sind, dass er falsch urteilt, billigt die träge Lust, aber jene, welche durch Vernunft von ihm tüchtig gemacht wird; so ist auch dieselust-orientierte Denkweise in der Handlung verankert.
3. Quidni in actu sit, cum ipse dicat Epicurus aliquando se recessurum a uoluptate, dolorem etiam adpetiturum, si aut uoluptati imminebit paenitentia aut dolor minor pro grauiore sumetur? Warum sollte sie nicht in der Handlung verankert sein, wenn selbst Epikur einmal sagt, dass er von der Lust zurückkehren werde, dass er auch den Schmerz erstreben werde, wenn ihm entweder die Reue über seine Lust droht oder das kleinere Übel anstelle eines größeren gebraucht wird?
4. Quo pertinet haec dicere? ut appareat contemplationem placere omnibus; alii petunt illam, nobis haec statio, non portus est. Welchen Zweck hat es, dies zu sagen? Damit offensichtlich wird, dass die Erwägung allen gefällt; die einen erstreben sie, für uns ist sie ein Rastplatz, nicht ein Hafen.
VIII. 1. Adice nunc [huc] quod e lege Chrysippi uiuere otioso licet: non dico ut otium patiatur, sed ut eligat. Negant nostri sapientem ad quamlibet rem publicam accessurum; quid autem interest quomodo sapiens ad otium ueniat, utrum quia res publica illi deest an quia ipse rei publicae, si omnibus defutura res publica est? Semper autem deerit fastidiose quaerentibus. Füge nun hinzu, dass nach dem Gesetz des Chrysipp erlaubt ist, in Muße zu leben: ich sage nicht, dass er die Muße erduldet, sondern dass er sie auswählt. Die unseren leugnen, dass der Weise sich jedem Staat nähern darf; was aber spielt es für eine Rolle, auf welche Weise der Weise zur Muße kommt, ob er das tut, weil ihm der Staat fehlt oder ob er es tut, weil er selbst dem Staat fehlt, wenn sonst der Staat künftig allen fehlen wird? Immer aber wird er denen fehlen, die wählerisch nach einem suchen.
2. Interrogo ad quam rem publicam sapiens sit accessurus. Ad Atheniensium, in qua Socrates damnatur, Aristoteles ne damnetur fugit? in qua opprimit inuidia uirtutes? Negabis mihi accessurum ad hanc rem publicam sapientem. Ad Carthaginiensium ergo rem publicam sapiens accedet, in qua adsidua seditio et optimo cuique infesta libertas est, summa aequi ac boni uilitas, aduersus hostes inhumana crudelitas, etiam aduersus suos hostilis? Et hanc fugiet. Ich frage, welchem Staat der Weise sich nähern wird. Dem athenischen, in dem Socrates verurteilt wurde und Aristoteles floh, damit er es nicht würde? In dem der Neid die Tugenden unterdrückte? Du wirst mir gegenüber verneinen, dass der Weise sich diesem Staat nähern sollte. Dem karthagischen Staat wird der Weise sich also nähern, in dem beharrlicher Aufstand herrscht und gerade den besten eine bedrohliche Zügellosigkeit innewohnt, höchste Wertlosigkeit den des Landes und des Guts herrscht, unmenschliche Grausamkeit gegenüber Feinden, auch feindselig gegen die eigenen Leute? Auch jenen wird der Weise fliehen.
3. Si percensere singulas uoluero, nullam inueniam quae sapientem aut quam sapiens pati possit. Quodsi non inuenitur illa res publica quam nobis fingimus, incipit omnibus esse otium necessarium, quia quod unum praeferri poterat otio nusquam est. Wenn ich sie alle einzeln durchdenken könnte, würde ich keinen finden, der den Weisen ertragen könnte oder den der Weise selbst ertragen kann. Wenn aber dieser Staat, den wir uns ausdenken, nicht zu finden ist, dann wird doch für alle Weisen die Muße notwendig, weil das, was einzig ihr bevorzugt werden konnte, nirgends existiert.
4. Si quis dicit optimum esse nauigare, deinde negat nauigandum in eo mari in quo naufragia fieri soleant et frequenter subitae tempestates sint quae rectorem in contrarium rapiant, puto hic me uetat nauem soluere, quamquam laudet nauigationem. * * * Wenn jemand sagt, es sei schwierig zu segeln, und es dann ablehnt, auf einem Meer zu segeln, auf dem des Öfteren jemand Schiffbruch erleidet und wo regelmäßig plötzliche Stürme aufkommen, die den Steuermann in die andere Richtung zerren, dann glaube ich, dass er mir verbietet, jemals loszusegeln, obwohl er doch das Segeln an sich lobt.