Anthropologie, oder: Warum Altertum

Heute fand die letzte Sitzung des Methodenkurses in meinem Classics-Master-Jahr in der Uni Edinburgh statt. Nach etwa zwanzig Sitzungen, in denen ich oft nicht wusste, was ich hier verloren hatte, in denen ich das Gefühl hatte, mein allererstes Uni-Semester nochmal zu durchleben, und in denen ich Dinge vermittelt bekam, die ich als Tutor in Freiburg vor fünf Jahren selbst unterrichtet habe, saß ich heute im Seminar von Douglas Cairns, seines Zeichens Glasgowegian und Professor des Classics-Lehrstuhls. Es ging um – Anthropologie. Ich habe fünf Jahre lang im Gymnasium in Saarbrücken Latein gelernt, fünf Jahre Latein und Geschichte in Freiburg studiert, und ein weiteres Jahr Classics, was mit „Altertumswissenschaften“ nicht schlecht übersetzt wäre, in Edinburgh. Ich habe nie so recht in Worte fassen können, was mich an all dem fasziniert hat, und warum ich glaube, dass das Altertum und seine Sprachen es wert sind, in Schule und Universität gelehrt und gelernt zu werden. Douglas ist es heute gelungen, mir die Altertumswissenschaft in einer Weise nahezubringen, dass ich glaube, dass ich schon immer der Dinge wegen von ihr fasziniert war, die er heute gesagt hat. Aber der Reihe nach.

Anthropologie

Anthropologie (natürlich Altgriechisch) ist wörtlich die Lehre vom Menschen. Das ist ein ziemlich weites Feld, und das Englische hat einen schönen Oberbegriff für alle Fächer, die sich damit beschäftigen: Humanities, was wörtlich „Menschlichkeiten“ heißt, aber „Geisteswissenschaften“ meint. Es geht um den Menschen, darum, was er ist, und wie man das herausfinden kann. Aber was soll das mit der Antike zu tun haben?

Anthropologie ist ein weites, weites Feld. In deutschen Universitäten beschäftigen sich mit der Frage nach dem Menschen eine Unzahl von Fächern: Zum Beispiel die Ethnologie, die Soziologe, die Philosophie, die Biologie, die Psychologie, die Politikwissenschaft, die Geschichte, die Theologie, und ohne Zweifel könnte man eine ganze Reihe weitere Fächer finden. Natürlich haben diese Fächer sehr verschiedene Schwerpunkte darin, wie sie nach dem Menschen fragen, und heute ging es vor allem um die Ethnologie.

Ethnologie

Ethnologie (natürlich wieder Altgriechisch) ist wörtlich die Lehre von den Völkern. Die Ethnologie ist ein sehr problematisches Feld, weil sie Rassentheorie, Manifest Destiny und Zivilisierungsmission, die eingebildete Überlegenheit der westlichen Kultur und viele andere üble Folgen gezeitigt hat. Im Kern jedoch ist die Ethnologie ein wunderbares Feld. Man kann sich das Fach, haarsträubend und absichtlich vereinfacht, so vorstellen: Indiana Jones reist auf eine Insel mitten im Pazifik und besucht ein bisher unbekanntes Naturvolk, lernt seine Bräuche und Sprache kennen, und schreibt hinterher ein Buch darüber. Das ist, grob vereinfacht, Ethnologie, wie sie im 18. und 19. Jahrhundert erfunden und betrieben wurde.

Aus dem, was Ethnologen in ihre Bücher schreiben, kann man zwei Lehren ziehen. Diese Lehren stehen sich diametral entgegen:

  1. Dieses Naturvolk ist unzivilisiert, denn es trägt keine ordentlichen Hosen, und hat obendrein keine Krawatten und keine Elektrizität. Wir sollten ihm beibringen, wie eine zivilisierte Welt aussieht.
  2. Dieses Naturvolk lebt sehr anders als wir, und scheint trotzdem irgendwie glücklich zu werden. Das ist sehr interessant, denn könnte es dann nicht sein, dass wir viel glücklicher wären, wenn wir uns da ein bisschen was abschauen würden?

Man kann also glauben, dass man selbst weiß, was richtig und was falsch ist, und dass man anderen Leuten diese Werte beibringen sollte. Oder man kann versuchen, die Unterschiede zwischen der eigenen und der fremden Kultur als schlichte Unterschiede zu nehmen, und dabei die eigene Perspektive so unvoreingenommen wie möglich zu gestalten. Wir nennen die erste Perspektive wertend (weil man die andere Kultur aus dem Verhältnis zur eigenen Perspektive bewertet) und die zweite Perspektive beschreibend (weil man versucht, nur zu beschreiben, ohne eben zu werten).

Was soll das?

Aus einer beschreibenden Beobachtung anderer Kulturen und Menschen lässt sich über die menschliche Welt sehr viel Kluges lernen. Zum Beispiel wird jemand, der sich auf Kulturen eingelassen hat, die sehr anders sind als die eigene, nicht so schnell in Bausch und Bogen ablehnen, was anders ist als seine eigene Herkunft oder Umgebung. Man kennt das vom Reisen: Am Anfang ist China ein sehr komisches Land. Die Leute tragen komische Kleidung, sprechen eine komische Sprache, essen komische Dinge und machen komische Sachen. Verbringt man aber Zeit mit ihnen, lernt man, dass die komische Kleidung genauso funktional ist wie Jeans und Unterhemd, und dass die komische Sprache genauso gut funktioniert, wenn man sie beherrscht, und dass das Essen auch gut schmeckt, wenn man sich an Glutamat gewöhnt hat, und dass Verbeugen zur Begrüßung auch nicht merkwürdiger ist als Händeschütteln. (Ich bitte bei allen Lesern dringend um Verzeihung für diese semi-rassistischen Stereotypen.)

Also: Anthropologie weitet die eigene Perspektive. Die Dinge, die man selbst macht und kennt und liebt, sind nicht notwendigerweise richtiger oder besser als die, die andere vielleicht völlig anders machen als man selbst.

Kulturrelativismus

Das Kernproblem dieser Toleranzperspektive ist: Wenn man sie auf die Spitze treibt, gibt es am Ende gar keine allgemeingültigen Werte mehr. Diese Tendenz fand Mitte des 20. Jahrhunderts Einzug in die Wissenschaft der Nach-68er-Generation, und heute ist die Linkspartei ein prominenter Vertreter eines oftmals grässlichen Kulturrelativismus. Die Idee dahinter ist: Wenn jede Kultur alles anders macht, wie kann man dann überhaupt irgendwie entscheiden, was richtig und was falsch ist? Oder, um Douglas‘ Beispiel zu übernehmen: Wenn irgendein Stamm in Afrika die Genitalien von Mädchen verstümmelt, ist das dann einfach die Sichtweise einer anderen Kultur, der gegenüber man tolerant sein muss? Ist der Mord an der eigenen Schwester, um die Familienehre zu retten, einfach eine kulturelle Institution, die man respektieren muss?

Hoffentlich nicht. Kulturen entwickeln Kontrollmechanismen, mit denen Menschen im Endeffekt unterdrückt werden, seien es soziale Kontrollen – z.B. Ächtung für Ehebrecher – oder handfeste Ehrenmorde an Frauen, die außerhalb der eigenen Kultur heiraten. Solche Mechanismen schaden Einzelnen, und diejenigen, die sie ausüben und als Teil ihrer kulturellen Identität verteidigen, würden wahrscheinlich ihre Meinung schnell wechseln, wenn man diesen Teil der kulturellen Identität auch auf sie anwenden würde. Oder, mit Douglas‘ Beispiel: Wenn man die Männer in der besagten Kultur fragt, ob sie Genitalverstümmelungen nicht auch bei Männern für konsequent und sinnvoll halten, wären sie sicher nicht einverstanden. Für eine Generalisierung reicht es an diesen Stellen oft nicht. Und Werte, denen sich nicht jeder in einer Gemeinschaft unterwerfen will, haben eine gewisse Tendenz, unterdrückender Natur zu sein.

Bestimmte Werte sind, so glaube ich, deswegen verallgemeinerbar. Letztlich laufen diese Werte alle auf den Kantschen Imperativ hinaus („Handle so, dass die Maxime deines Handelns stets Grundlage einer allgemeinen Gesetzgebung sein könnte“, oder im Kinderreim, „Was du nicht willst was man dir tu, das füg auch keinem anderen zu“, oder auf gut Deutsch: „Benimm dich so, wie du willst, dass sich die anderen auch benehmen“).

Was hat die Antike damit zu tun?

Am Ende dieses weiten und weit ins Grobe gezogenen Exkurses will ich versuchen, zu erklären, warum man in der Schule Latein, Geschichte oder Altgriechisch lernen sollte. Nun:

Diese ganzen Ideen, von denen ich oben gesprochen habe, sind nicht neu, sondern uralt. In der antiken Philosophie, und mitunter schon davor, wird über den Menschen diskutiert, darüber, was ihn zum Menschen macht, und wie er sich benehmen soll. Damit meine ich nicht, dass man diesen vor 2500 Jahren verstorbenen Menschen jedes Wort glauben soll! Die meisten dieser Leute hatten Vorstellungen, bei denen sich uns heute die Fußnägel zusammenrollen würden. Aristoteles rechtfertigt in der Athenaion Politeia die Sklaverei mit dem Argument, dass die Sklaven eben zu blöde wären, selbstständig zu leben, und insofern einen Beherrscher brauchen. Klingt das abstrus? Sicher! Aber warum schreibt ein Aristoteles so etwas?

Weil seine eigene Gesellschaft es so gemacht hat. Was ein Mensch von Jugend an sieht und beigebracht bekommt, hält er für richtig. Aristoteles hält die Sklaverei für richtig, weil die Sklaven ja für ihn schuften. (Ein Sklave hätte das sicher anders gesehen.) Im Iran werden Frauen gesteinigt, weil sie ihrem Ehemann fremdgegangen sind, und das hält der lokale Imam für richtig, weil das mit seiner Auslegung des Koran zusammenpasst. (Die Frau sähe das sicher anders.) Und vielleicht hält der Leser dieses Artikels es für Blödsinn, Latein zu lernen, weil er selbst nie Latein gelernt hat und findet, dass das intellektuelles Gehabe ist, mit dem man kein Geld verdienen kann. (Jemand, der an Latein Gefallen gefunden hat, sieht das anders.)

Klassische Bildung hat viele handfeste Vorteile, die keinen seitenlangen Artikel brauchen und sich von selbst erklären. Sie lehrt Grammatik grundlegender als jede moderne Fremdsprache und erleichtert damit das Lernen dieser modernen Fremdsprachen, ja sogar eine gute Verwendung der eigenen Muttersprache. Sie lehrt den korrekten Umgang mit Fremdworten, schließlich kommen fast alle Fremdworte der modernen Sprachen aus dem Lateinischen oder Altgriechischen.

Aber: Was mich am Altertum fasziniert, das ist die Fremdheit, die diesen Kulturen innewohnt. Sie sind durch Jahrtausende von uns getrennt, und sind insofern ganz ähnlich wie dieser Stamm im Pazifik, zu dem Indiana Jones gereist ist. Wir bewegen uns im Altertum wie in einer anderen Welt, die uns völlig unvertraut ist, in der zwar Menschen wie du und ich leben und sprechen, aber was sie sprechen, ist uns so fremd, wie es nur sein kann. In der Altertumswissenschaft öffnet sich für uns ein Fenster in eine Welt, die uns fremd ist, und die uns ein Gefühl dafür geben kann, dass unsere Sichtweise nicht die einzig richtige Sichtweise ist. Dass andere Menschen anders leben, und wir uns vielleicht mit dem, was wir für richtig für ein Menschenleben halten, nicht mehr so ernst nehmen sollten. Und dass es aber auch diesen kleinsten gemeinsamen Nenner gibt, den Menschen seit 2500 Jahren für richtig halten.

In einer Welt, in der die Menschen verstanden haben, dass ihre Sichtweite nur bis zum eigenen Horizont reicht, und gelernt haben, darüber hinaus zu denken, gibt es keinen Grund mehr, jemanden wegen Ehre zu erschießen, Menschen wegen ihres (Un-)Glaubens zu verfolgen, Menschen wegen ihrer Sexualität auszugrenzen, oder wegen ihrer Herkunft zu verachten. Ich glaube, dass in diesem Sinne Altertumswissenschaft, als ein Weg der Anthropologie, uns zu offeneren, verständigeren und vielleicht in letzter Konsequenz erträglicheren Menschen machen kann.

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