Sermo 2, 6

Horaz beschäftigt sich in der Satire II, 6 – wie in vielen anderen seiner Satiren und Episteln – mit der Frage, ob das Leben auf dem Land oder auf der Stadt das „bessere“ ist. Recht idealistisch fallen seine Schilderungen des Landlebens aus; gnadenlos realistisch hingegen kritisiert er das Stadtleben mit all seinen Unanehmlichkeiten. Doch auch die Frage nach dem Sinn von Gewinnsucht und Geldstreben stellt sich in dieser Satire – ein weiteres zentrales Motiv der Dichtung Horaz‘.
Im Anschluss an diese Erwägungen folgt die Fabel von der Stadtmaus und der Landmaus, welche im Original bei Aesop zu finden sein dürfte. Hierbei handelt es sich um eine Metapher, welche Horaz‘ unschlüssiges Abwägen zwischen Land- und Stadtleben in die Welt der Tiere überträgt: die Armut auf dem Lande betrifft den Bauern ebenso wie die Landmaus; doch die Gefahren der Stadt lauern nicht nur für den Menschen, sondern auch für die Mäuse. Und die Gefahren sind sich garnicht so unähnlich: stören Horaz die vielen Leute, die in Rom alltäglich Fragen und Bitten an ihn stellen, werden die Mäuse vom tosenden Gebell der Wachhunde umher gescheucht.
1 Hoc erat in votis: modus agri non ita magnus,
hortus ubi et tecto vicinus iugis aquae fons
et paulum silvae super his foret. auctius atque
di melius fecere. bene est. nil amplius oro,
5 Maia nate, nisi ut propria haec mihi munera faxis.
So war es gelobt: ein nicht so großes Maß an Acker,
wo ein Garten und ein Wasserjoch nahe am Hause
und darüber hinaus ein wenig Wald sein soll. Aber höher
und besser haben es die Götter gemacht. Es ist gut. Nichts größeres will ich,
der Maia Geborener, als dass du mir jenes Geschenk übereignest.

si neque maiorem feci ratione mala rem
nec sum facturus vitio culpave minorem,
si veneror stultus nihil horum ‚o si angelus ille
proximus accedat, qui nunc denormat angellum!‘
Wenn ich nicht das Geld vermehrt habe mit bösem Plan
und es nicht verkleinern werde durch Frevel oder Schuld,
wenn ich nichts solches dümmlich erbitte: „Ach wenn doch jenes Eckchen
als nächstes hinzukäme, das jetzt das Grundstück schief macht!“

10 ‚o si urnam argenti fors quae mihi monstret, ut illi,
thesauro invento qui mercennarius agrum
illum ipsum mercatus aravit, dives amico
Hercule!‘, si quod adest gratum iuvat, hac prece te oro:
„Ach wenn mir das Schicksal eine Urne von Silber zeigen würde, wie jenem,
der – nachdem er einen Schatz fand – als Arbeiter den Acker
kaufte und diesen selben pflügte, reich an ihrem Freund
Herkules!“, wenn, was da ist, lieblich erfreut, bitte ich dich mit diesem Gebet:

pingue pecus domino facias et cetera praeter
15 ingenium, utque soles, custos mihi maximus adsis.
Das Vieh mögest du fett machen für den Herrn und die übrigen Dinge – außer
den Verstand – und wie du es zu tun pflegst, steh mir als größter Wächter bei.

ergo ubi me in montes et in arcem ex urbe removi,
quid prius inlustrem saturis musaque pedestri?
Sobald ich mich also aus der Stadt in Berge und Burg zurückgezogen habe,
wozu soll ich vorher mit Satiren und gewöhnlicher Muse glänzen?

nec mala me ambitio perdit nec plumbeus auster
autumnusque gravis, Libitinae quaestus acerbae.
Dort verdirbt mich nicht die üble Ehrsucht, nicht der bleierne Südwind
und der schwere Herbst, die Hochkonjunktur der schneidenden Leichengöttin.

20 Matutine pater, seu Iane libentius audis,
unde homines operum primos vitaeque labores
instituunt – sic dis placitum -, tu carminis esto
principium. Romae sponsorem me rapis: ‚eia,
ne prior officio quisquam respondeat, urge.‘
Vater Matutinus, sei es, dass du, Ianus, lieber zuhörst,
von dem an die Menschen die ersten Mühen der Werke und des Lebens
beginnen – so ist es der Wille der Götter -, du seist des Liedes
Anfang. In Rom schleifst du mich als Bürgen davon: „Heda,
beeile dich, damit nicht irgendwer früher der Pflicht gehorcht.“

25 sive aquilo radit terras seu bruma nivalem
interiore diem gyro trahit, ire necesse est.
postmodo quod mi obsit clare certumque locuto
luctandum in turba et facienda iniuria tardis.
Sei es, dass der Nordwind die Böden schleift, sei es, dass die Wintersonnen-
wende in ziemlich enger Bahn den verschneiten Tag bringt, man muss gehen.
Später steht mir etwas im Wege, der ich laut und deutlich gesprochen habe,
ich muss mich in der Menge herumschlagen und den Trägen Unrecht antun.

‚quid tibi vis, insane?‘ et ‚quam rem agis?‘ inprobus urget
30 iratis precibus, ‚tu pulses omne quod obstat,
ad Maecenatem memori si mente recurras.‘
„Was soll das, du Verrückter?“ und „Was treibst du?“, quengelt der Mistfink
mit zornigen Verwünschungen, „du schlägst nach allem, was dir im Weg steht,
wenn du ganz in Gedanken zu Maecenas eilst.“

hoc iuvat et melli est, non mentiar. at simul atras
ventum est Esquilias, aliena negotia centum
per caput et circa saliunt latus. ‚ante secundam
35 Roscius orabat sibi adesses ad Puteal cras.‘
Das erfreut und ist von Honigsüße, ich will nicht lügen. Aber sowie man
zum schwarzen Esquilin gekommen ist, so springen hundert fremde Geschäfte
durch Kopf und Körper. „Roscius bat, dass du ihm morgen vor der zweiten
(Stunde) beim Puteal hilfst.“

‚de re communi scribae magna atque nova te
orabant hodie meminisses, Quinte, reverti.‘
„Die Schreiber baten, dass du daran denkst, heute zurückzukommen
wegen einer gemeinsamen, großen und neuen Sache.“

‚inprimat his cura Maecenas signa tabellis.‘
dixeris: ‚experiar‘: ’si vis, potes‘, addit et instat.
„Trag Sorge dafür, dass Maecenas auf diese Täfelchen sein Zeichen drückt!“
Sagst du „Ich versuch’s“: „Wenn du willst, kannst du!“, fügt er an und drängt.

40 septimus octavo propior iam fugerit annus,
ex quo Maecenas me coepit habere suorum
in numero, dumtaxat ad hoc, quem tollere raeda
vellet iter faciens et cui concredere nugas
hoc genus: ‚hora quota est?‘ ‚Thraex est Gallina Syro par?‘
Das siebte Jahr entfloh schon, es war recht nah am achten,
seit mich Maecenas zur Zahl der Seinen zu rechnen begann,
freilich lediglich, um jemanden auf dem Wagen mitzunehmen
wenn er reiste, und um mir Albernheiten anvertrauen
von der Sorte: „Wieviel Uhr?“ „Ist der Thraker Gallina dem Syrus ebenbürtig?“

45 ‚matutina parum cautos iam frigora mordent‘,
et quae rimosa bene deponuntur in aure.
per totum hoc tempus subiectior in diem et horam
invidiae noster. ludos spectaverat, una
luserat in campo: ‚fortunae filius‘ omnes.
„Die morgendliche Kälte beißt schon die, die zu unvorsichtig sind“,
und was sonst im furchigen Ohr gut aufgehoben ist.
Die ganze Zeit hindurch war der unsere täglich und stündlich ausgelieferter
dem Neid. Ob er die Spiele beobachtete, gemeinsam (mit ihnen)
auf dem Feld spielte: „Sohn der Fortuna“ sagen sie alle.

50 frigidus a rostris manat per compita rumor:
quicumque obvius est, me consulit: ‚o bone – nam te
scire, deos quoniam propius contingis oportet -,
numquid de Dacis audisti?‘ ’nil equidem.‘ ‚ut tu
semper eris derisor.‘ ‚at omnes di exagitent me,
55 si quicquam.‘ ‚quid? militibus promissa Triquetra
praedia Caesar an est Itala tellure daturus?‘
Ein schauriges Gerücht tropft von der Rednerbühne durch die Gassen:
wer auch immer mir entgegenkommt, fragt: „Mein Guter – denn
es ist notwendig, dass du es weißt, weil du ja näher an die Götter rührst -,
hast du denn etwas über die Daker gehört?“ „Ich? Nichts.“ „Ach, was bist du immer für ein Schelm.“ „Aber alle Götter sollen mich quälen,
wenn ich irgendwas weiß!“ „Was? Wird Caesar den Soldaten versprochene Güter geben auf sizilischer oder italischer Erde geben?“

iurantem me scire nihil mirantur ut unum
scilicet egregii mortalem altique silenti.
perditur haec inter misero lux non sine votis:
60 o rus, quando ego te adspiciam quandoque licebit
nunc veterum libris, nunc somno et inertibus horis
ducere sollicitae iucunda oblivia vitae?
Sie bewundern, dass ich schwöre, nichts zu wissen, wie einen
Sterblichen, freilich einen von hervorragender, tiefer Verschwiegenheit.
Mit solchen Dingen geht mir Armem der Tag verloren, nicht ohne Wünsche:
ach mein Landgut, wann kann ich dich erblicken, und wann wird es erlaubt sein
erst mit den Büchern der Alten, dann mit Schlaf und faulen Stunden
das süße Vergessen zu trinken vom erregten Leben?

o quando faba Pythagorae cognata simulque
uncta satis pingui ponentur holuscula lardo?
65 o noctes cenaeque deum, quibus ipse meique
ante Larem proprium vescor vernasque procacis
pasco libatis dapibus.
Oh wann wird die Bohne, die Verwandte des Pythagoras, und zugleich
das Gemüse, verbunden mit reichlich fettem Speck, serviert?
Oh Nächte und Mahlzeiten der Götter, von denen ich selbst mich ernähreund mein Eigentum vor dem Lar, und die zudringlichen Sklaven
füttere mit geopferten Speisen.

prout cuique libido est,
siccat inaequalis calices conviva solutus
legibus insanis, seu quis capit acria fortis
70 pocula seu modicis uvescit laetius. ergo sermo
oritur, non de villis domibusve alienis,
nec male necne Lepos saltet;
Wie einem jeden die Begierde innewohnt,
trinkt er die ungleichen Becher aus, ein von sinnlosen
Gesetzen freier Gast, sei es, dass einer energisch greift nach scharfen
Trinkgefäßen, sei es, dass er sich ziemlich heiter mit Mäßigen besäuft. Also
entsteht ein Gespräch, nicht über Villen und fremde Häuser,
und auch nicht darüber, ob Lepos schlecht hüpft oder nicht.

sed, quod magis ad nos
pertinet – et nescire malum est -, agitamus: utrumne
divitiis homines an sint virtute beati,
75 quidve ad amicitias, usus rectumne, trahat nos
et quae sit natura boni summumque quid eius.
Aber, was uns eher
betrifft – und es nicht zu wissen, ist schlecht – das wollen wir besprechen: ob
die Menschen durch Reichtümer oder durch Tugend glücklich werden,
oder was uns zu Freundschaften zieht, ihr Nutzen oder ihre Echtheit,
und was die Natur des Guten sei und was das Höchste davon sei.

Cervius haec inter vicinus garrit anilis
ex re fabellas. siquis nam laudat Arelli
sollicitas ignarus opes, sic incipit:
Der Nachbar Cervius quasselt dazwischen altweiberhaft,
der Sache folgend, von Geschichten. Wenn nämlich jemand die
riskanten Reichtümer des Arellus unwissend, dann fängt er so an:

‚olim
80 rusticus urbanum murem mus paupere fertur
accepisse cavo, veterem vetus hospes amicum,
asper et attentus quaesitis, ut tamen artum
solveret hospitiis animum. quid multa?
Einst
soll die Landmaus die Stadtmaus in ihrer armseligen
Höhle empfangen haben, ein alter Gastfreund einen alten Freund,
rauh und aufmerksam gegenüber dem Errungenen, sodass sie schließlich
den geizigen Geist bei der Bewirtung löste. Was soll man viel reden?

neque ille
sepositi ciceris nec longae invidit avenae,
85 aridum et ore ferens acinum semesaque lardi
frusta dedit, cupiens varia fastidia cena
vincere tangentis male singula dente superbo,
cum pater ipse domus palea porrectus in horna
esset ador loliumque, dapis meliora relinquens.
(Anm.: esset = edisset, von edere, nicht von esse)
Weder knauserte sie
an der beiseite geschafften Kichererbste noch an langem Schilfrohr,
brachte auch getrocknete Weinbeere mit dem Mund und halbgegessene
Speckbrocken brachte sie, und wollte mit einem bunten Mahl den Überdruss
der mit hochmütigem Zahn Einzelnes kaum Benagenden (Stadtmaus), besiegen,
als der Herr des Hauses selbst, auf der frischen Spreu ausgestreckt,
Dinkel und Schwindelhafer aß und die besseren Dinge des Mahls übrig ließ.

90 tandem urbanus ad hunc „quid te iuvat“, inquit, „amice,
praerupti nemoris patientem vivere dorso?
vis tu homines urbemque feris praeponere silvis?
carpe viam, mihi crede, comes, terrestria quando
mortalis animas vivunt sortita neque ulla est
95 aut magno aut parvo leti fuga: quo, bone, circa,
dum licet, in rebus iucundis vive beatus,
vive memor, quam sis aevi brevis.“
Schließlich sprach die Stadtmaus zu dieser: „Was erfreut es dich, Freund,
das Leben zu ertragen am Rücken des abschüssigen Waldes?
Willst du Menschen und Stadt den wilden Wäldern vorziehen?
Bewältige den Weg, glaub mir, als Gefährte, wenn irdische Schicksäler
in den sterblichen Seelen leben und keine Flucht vor dem Tod
für den Großen oder für den Kleinen existiert: deswegen, mein Guter,
lebe unter annehmlichen Umständen, solange es erlaubt ist,
lebe eingedenk, von wie kurzer Lebenszeit du bist.“

haec ubi dicta
agrestem pepulere, domo levis exsilit; inde
ambo propositum peragunt iter, urbis aventes
100 moenia nocturni subrepere. iamque tenebat
nox medium caeli spatium, cum ponit uterque
in locuplete domo vestigia, rubro ubi cocco
tincta super lectos canderet vestis eburnos
multaque de magna superessent fercula cena,
105 quae procul exstructis inerant hesterna canistris.
Diese Worte – kaum dass sie gesagt waren –
trafen die Landmaus, die flink aus ihrer Behausung sprang; von dort
bewältigen sie gemeinsam den Weg, den sie sich vorgenommen haben, und
begierig, unter den Mauern der Stadt bei Nacht hindurchzukriechen. Schon
besetzte die Nacht die Mitte des Himmels, da hinterlassen sie beide
ihre Spuren in einem reichen Haus, wo eine Decke,
in roten Scharlach getränkt, über elfenbeinernen Liegen schimmerte
und viele Reste von großen Festmählern übrig waren,
welche, noch von gestern, in der Ferne in aufgetürmten Körben drin waren.

ergo ubi purpurea porrectum in veste locavit
agrestem, veluti succinctus cursitat hospes
continuatque dapes nec non verniliter ipsis
fungitur officiis, praelambens omne quod adfert.
Sobald also sie also die Stadtmaus auf purpurnes Laken gebettet hatte,
sauste sie umher wie ein bereitwilliger Gastgeber
und fährt mit den Speisen fort, und erfüllt – geradezu sklavisch –
diese Aufgaben, und beleckt alles zuvor, was sie heranschafft.

110 ille cubans gaudet mutata sorte bonisque
rebus agit laetum convivam, cum subito ingens
valvarum strepitus lectis excussit utrumque.
Jene erfreut sich liegend an dem umgedrehten Schicksal, und mit guten
Dingen gibt sie den fröhlichen Gast, als plötzlich ein ungeheures
Knirschen der Türflügel beide von den Liegen verjagt.

currere per totum pavidi conclave magisque
exanimes trepidare, simul domus alta Molossis
115 personuit canibus. tum rusticus: „haud mihi vita
est opus hac“, ait et „valeas: me silva cavosque
tutus ab insidiis tenui solabitur ervo.“‚
Sie laufen panisch durch das ganze Gemach und umso mehr
beben sie verängstigt, und zugleich donnert das hohe Haus
von Molosserhunden. Da sagt die Landmaus: „Dieses Leben
brauche ich kaum“, und „Lebe wohl: ich werde mich und die Höhlen
im Wald sicher mit magerer Erve trösten und die Gefahren lindern.“‚