Epistula 2, 2

Flore, bono claroque fidelis amice Neroni,
siquis forte uelit puerum tibi uendere natum
Tibure uel Gabiis et tecum sic agat: ‚Hic et
candidus et talos a uertice pulcher ad imos
5 fiet eritque tuus nummorum milibus octo,
uerna ministeriis ad nutus aptus erilis,
litterulis Graecis inbutus, idoneus arti
cuilibet; argilla quiduis imitaberis uda;
quin etiam canet indoctum, sed dulce bibenti.
Florus, treuer Freund des guten und berühmten Nero,
wenn einer vielleicht dir einen Sklaven verkaufen will, der geboren ist
in Tibur oder Gabii und mit dir so verhandelt: „Der da,
glänzend und schön vom Scheitel bis zu den Füßen,
soll deiner sein und bleiben für achttausend Sesterze,
ein Haussklave, der den Forderungen des Herrn auf einen Wink nachkommt,
auch in griechischer Literatur wurde er geschult, ist kunstfertig
bei allem, was man will, wie nasser Ton, den du formen kannst, wozu du willst;
ja er singt sogar, zwar nicht geschult, aber dem Trinkenden angenehm.

10 Multa fidem promissa leuant, ubi plenius aequo
laudat uenalis qui uolt extrudere merces.
Res urget me nulla; meo sum pauper in aere.
Nemo hoc mangonum faceret tibi; non temere a me
quiuis ferret idem. Semel hic cessauit et, ut fit,
15 in scalis latuit metuens pendentis habenae‘;
des nummos, excepta nihil te si fuga laedit,
ille ferat pretium poenae securus, opinor.
Viele Versprechungen mildern die Gutgläubigkeit, sobald
einer übertrieben die Verkaufswaren lobt, die er losschlagen will.
Mich drängt kein Geld; arm bin ich auch an Schulden.
Niemand unter den Sklavenhändlern würde das für dich tun; nicht ohne Plan
würde irgendeiner dasselbe mit mir machen. Einmal ist er abgehauen und, wie das eben passiert,
versteckte sich unter der Treppe aus Angst vor der drohenden Peitsche;
du gibst ihm die Münzen, wenn dich außer der Flucht nichts abhält,
und jener wird seinen Preis davontragen, sicher vor Strafe, wie ich meine.

Prudens emisti uitiosum, dicta tibi est lex;
insequeris tamen hunc et lite moraris iniqua?
20 Dixi me pigrum proficiscenti tibi, dixi
talibus officiis prope mancum, ne mea saeuos
iurgares ad te quod epistula nulla rediret.
Quid tum profeci, mecum facientia iura
si tamen adtemptas? Quereris super hoc etiam quod
25 expectata tibi non mittam carmina mendax.
Wissend hast du den fehlerhaften Sklaven gekauft, dem Gesetz wurde genüge getan;
wirst du ihm trotzdem nachstellen und in unrechtmäßigem Streit ihn aufhalten?
Ich sagte dir, dass ich faul sei, als du aufgebrochen bist, und ich sagte
dass ich für solche Aufgaben regelrecht untauglich bin, damit du mich nicht wild
ausschimpfen würdest, weil kein Brief an dich zurückgesendet würde.
Was hat es damals genützt, wenn du nun, obwohl dem Gesetz genüge getan ist,
du mich trotzdem tadelst? Du klagst auch darüber, dass
ich dir die erwarteten Gedichte nicht zusende, ich Lügner.

Luculli miles collecta uiatica multis
aerumnis, lassus dum noctu stertit, ad assem
perdiderat; post hoc uehemens lupus, et sibi et hosti
iratus pariter, ieiunis dentibus acer,
30 praesidium regale loco deiecit, ut aiunt,
summe munito et multarum diuite rerum.
Clarus ob id factum donis ornatur honestis,
accipit et bis dena super sestertia nummum.
Der Soldat des Lucullus hatte sich eine Reisekasse mit viel
Plackerei zusammengespart, und während er nachts erschöpft schnarchte, verlor er es bis auf
das letzte As; danach wurde er ein wilder Wolf, zürnte sich und seinem Feind
gleichermaßen, fletschte hungrig die scharfen Zähne,
und vertrieb von einem königlichen Platz die Wachen, wie man sagt,
der massiv befestigt war und reich war an Reichtümern.
Berühmt wegen dieser Tat, wurde er mit Ehrgeschenken überhäuft,
empfing auch zweimal zehntausend Sesterze an Münzen.

Forte sub hoc tempus castellum euertere praetor
35 nescio quod cupiens hortari coepit eundem
uerbis quae timido quoque possent addere mentem;
‚I, bone, quo uirtus tua te uocat, i pede fausto,
grandia laturus meritorum praemia. Quid stas?‘
Post haec ille catus, quantumuis rusticus: ‚Ibit,
40 ibit eo, quo uis, qui zonam perdidit‘ inquit.
Zufällig war bald darauf der Feldherr begierig, eine Burg einnehmen,
irgendeine, und begann eben diesen zu ermahnen
mit Worten, welche selbst einem Ängstlichen noch Mut machen könnten;
„Geh, mein Guter, wohin dich deine Tugend ruft, geh mit glücklichem Fuß,
du wirst riesige Beuteverdienste davontragen. Was stehst du noch da?“
Darauf sagte jener pfiffig, so bäuerlich er auch war: „Gehen wird er,
gehen dahin, wohin du willst, wer sein Geld verloren hat.“

Romae nutriri mihi contigit atque doceri
iratus Grais quantum nocuisset Achilles.
Adiecere bonae paulo plus artis Athenae,
scilicet ut uellem curuo dinoscere rectum
45 atque inter siluas Academi quaerere uerum.
Dura sed emouere loco me tempora grato
ciuilisque rudem belli tulit aestus in arma
Caesaris Augusti non responsura lacertis.
In Rom gelang es mir, aufzuwachsen und zu lernen,
wie sehr der zornige Achilles den Griechen schadete.
Dazu gab noch ein wenig Kunstverständnis das gute Athen,
damit ich freilich das Krumme vom Geraden unterscheiden
und in den Wäldern der Akademie nach der Wahrheit suchen wolle.
Aber harte Zeiten vertrieben mich von diesem willkommenen Ort
und die Brandung des Bürgerkrieges trug mich Unkundigen zu den Waffen,
die den Flanken des Augustus Caesar nichts entgegenzusetzen hatten.

Vnde simul primum me dimisere Philippi,
50 decisis humilem pinnis inopemque paterni
et laris et fundi paupertas impulit audax
ut uersus facerem; sed quod non desit habentem
quae poterunt umquam satis expurgare cicutae,
ni melius dormire putem quam scribere uersus?
Aus alldem entließ mich erst Philippi,
mit beschnittenen Flügeln schlug mich besitzlos an Erbe,
an Haus und Grund die kühne Armut,
damit ich dichten würde; aber weil mir nun, reich, nichts fehlt,
was für ein Gift könnte mich jemals genügend reinigen,
wenn ich nicht das Schlafen für besser halte als das Dichten?

55 Singula de nobis anni praedantur euntes;
eripuere iocos, uenerem, conuiuia, ludum;
tendunt extorquere poemata; quid faciam uis?
Denique non omnes eadem mirantur amantque;
carmine tu gaudes, hic delectatur iambis,
60 ille Bioneis sermonibus et sale nigro.
Tres mihi conuiuae prope dissentire uidentur,
poscentes uario multum diuersa palato.
Einzelnes rauben die Jahre von uns, wenn sie vorbeigehen;
sie entreißen uns die Scherze, die Liebe, die Trinkereien, das Spiel;
nun versuchen sie mir auch die Gedichte wegzunehmen; was willst du, was ich tu?
Schließlich bewundern und lieben nicht alle die gleichen Dinge;
du freust dich am Lied, jener sich an den Jamben,
dieser sich an den bionischen Gesprächen und dem schwarzen Humor.
Mir scheinen nahezu drei Gäste zu streiten,
die wegen ihrer unterschiedlichen Geschmäcker weit Verschiedenes verlangen.

Quid dem? Quid non dem? Renuis quod tu, iubet alter;
quod petis, id sane est inuisum acidumque duobus.
65 Praeter cetera me Romaene poemata censes
scribere posse inter tot curas totque labores?
Hic sponsum uocat, hic auditum scripta, relictis
omnibus officiis; cubat hic in colle Quirini,
hic extremo in Auentino, uisendus uterque;
70 interualla uides humane commoda. ‚Verum
purae sunt plateae, nihil ut meditantibus obstet.‘
Was soll ich nun vorführen und was nicht? Was du ablehnst, wünscht ein anderer;
was du forderst, das ist den anderen beiden natürlich unwillkommen und säuerlich.
Darüber hinaus, meinst du etwa, ich könnte in Rom Gedichte
schreiben, in all den vielen Sorgen und den vielen Mühen?
Da ruft man mich als Bürge, hier soll ich mir Schriftstellereien anhören, alle meine Verpflichtungen
habe ich schon zurückgelassen; einer schläft auf dem Quirinushügel,
einer ganz am Ende des Aventin, und beide muss ich besuchen;
die Entfernungen, siehst du, für menschliche Verhältnisse bequem. „Aber
die Hauptstraßen sind gefegt, sodass nichts den Nachdenklichen im Weg steht.“

Festinat calidus mulis gerulisque redemptor,
torquet nunc lapidem, nunc ingens machina tignum,
tristia robustis luctantur funera plaustris,
75 hac rabiosa fugit canis, hac lutulenta ruit sus;
i nunc et uersus tecum meditare canoros.
Scriptorum chorus omnis amat nemus et fugit urbem,
rite cliens Bacchi somno gaudentis et umbra;
tu me inter strepitus nocturnos atque diurnos
80 uis canere et contracta sequi uestigia uatum?
Da eilt ein schwitzender Geschäftsmann mit Eseln und Trägern,
eine riesige Maschine wendet hier einen Stein, da einen Balken,
ein trauriger Leichenzug quetscht sich durch die schweren Wagen,
dort flitzt ein gieriger Hund entlang, hier stürzt ein schlammverschmiertes Schwein durch die Gasse;
geh nur los und erfinde dir wohlklingende Verse.
Der ganze Chor der Schriftsteller liebt den Wald und flieht die Stadt,
rechtmäßig ist er ein Klient des Bacchus, der sich am Schlaf und Schatten freut;
und du willst, dass ich in dem allnächtlichen und alltäglichen Lärm
singe und den zusammengezogenen Spuren der Dichter folge?

Ingenium, sibi quod uacuas desumpsit Athenas
et studiis annos septem dedit insenuitque
libris et curis, statua taciturnius exit
plerumque et risu populum quatit: hic ego, rerum
85 fluctibus in mediis et tempestatibus urbis,
uerba lyrae motura sonum conectere digner?
Frater erat Romae consulti rhetor, ut alter
alterius sermone meros audiret honores,
Gracchus ut hic illi, foret huic ut Mucius ille.
Ein Talentierter, der sich im leeren Athen niederließ
und sieben Jahre den Studien gab und alt wurde
über Büchern und Sorgen, verlässt es stummer als eine Statue wieder
und meist treibt er das Volk nur zum Lachen: hier soll ich, mitten in den Fluten
der Dinge und in den Stürmen der Großstadt,
der Leier Worte zu Wohlklang zu entlocken für würdig halten?
Ein Bruder eines Rechtsanwalts, ein Rhetor, lebte einmal in Rom, dass der eine
in den Worten des anderen reine Ehrungen hörte,
dass der eine dem anderen ein Gracchus, der andere dem einen ein Mucius war.

90 Qui minus argutos uexat furor iste poetas?
Carmina compono, hic elegos, ‚mirabile uisu
caelatumque nouem Musis opus.‘ Aspice primum
quanto cum fastu, quanto molimine circum
spectemus uacuam Romanis uatibus aedem;
95 mox etiam, si forte uacas, sequere et procul audi
quid ferat et qua re sibi nectat uterque coronam.
Was für ein Wahnsinn quält weniger die scharfsinnigen Dichter?
Ich erfinde Gedichte, dieser Elegien, „wunderbar anzuschauen,
das ziselierte Werk von neun Musen.“ Schau zuerst,
mit welchem Hochmut, welcher Bemühung wir umher
schauen auf den von römischen Dichtern leeren Tempel;
bald, wenn du zufällig Zeit hast, folge ihnen und höre von fern zu,
was ein jeder von ihnen erduldet und woraus er sich seine Krone knüpft.

Caedimur et totidem plagis consumimus hostem,
lento Samnites ad lumina prima duello.
Discedo Alcaeus puncto illius; ille meo quis?
100 Quis nisi Callimachus? Si plus adposcere uisus,
fit Mimnermus et optiuo cognomine crescit.
Wir werden geschlagen und mit ebensovielen Schlägen vernichten wir den Feind,
wie Samniten im zähen Zweikampf bis zum Tagesanbruch.
Ich scheide als Alcaeus aus diesem Duell; jener als – wer?
Wer, wenn nicht Callimachus? Wenn er mehr zu verlangen scheint,
wird er auch Mimnermus und wächst an seinem gewählten Beinamen.

Multa fero ut placem genus inritabile uatum,
cum scribo et supplex populi suffragia capto;
idem finitis studiis et mente recepta
105 opturem patulas impune legentibus auris.
Ridentur mala qui componunt carmina; uerum
gaudent scribentes et se uenerantur et ultro,
si taceas, laudant quicquid scripsere beati.
Viele ertrage ich, um das reizbare Geschlecht der Sänger zu befrieden,
solange ich schreibe und unterwürfig die Stimmen des Volkes einfange;
nach dem Ende meiner Mühen, mit erholtem Geist,
verschließe ich meine diesen beim Vorlesen sonst weit aufgesperrten Ohren ungestraft.
Ausgelacht werden die, die schlechte Gedichte dichten; aber
die Schreibenden freuen sich daran und bewundern sich selbst und darüber hinaus,
wenn du schweigst, loben sie glücklich das, was sie da hingeschrieben haben.

At qui legitimum cupiet fecisse poema,
110 cum tabulis animum censoris sumet honesti;
audebit, quaecumque parum splendoris habebunt
et sine pondere erunt et honore indigna ferentur,
uerba mouere loco, quamuis inuita recedant
et uersentur adhuc inter penetralia Vestae;
115 obscurata diu populo bonus eruet atque
proferet in lucem speciosa uocabula rerum,
quae priscis memorata Catonibus atque Cethegis
nunc situs informis premit et deserta uetustas;
adsciscet noua, quae genitor produxerit usus.
Aber wer ein regelgerechtes Gedicht geschrieben haben will,
soll mit den Schreibtafeln auch das Herz eines ehrlichen Zensors auf sich nehmen;
er wird wagen, was zu wenig an Glanz hat
und ohne Gewicht ist und eines Ehrenplatzes unwürdig vorgetragen wird,
diese Worte von ihrem Ort zu streichen, so ungern sie auch weichen
und im Heiligsten der Vesta sich aufhalten;
dem Volk schon lang unbekannte Worte wird ein guter Dichter ausgraben und
hervorbringen ans Licht, ansehnliche Worte für Dinge,
die an altehrwürdige Männer, Cato und Cethegus, erinnern,
auf denen nun unförmiger Schmutz liegt und die Verlassenheit des Alters;
und neue Worte wird er uns bringen, die der Sprachgebrauch als Schöpfer vorgebracht hat.

120 Vehemens et liquidus puroque simillimus amni
fundet opes Latiumque beabit diuite lingua;
luxuriantia compescet, nimis aspera sano
leuabit cultu, uirtute carentia tollet,
ludentis speciem dabit et torquebitur, ut qui
125 nunc Satyrum, nunc agrestem Cyclopa mouetur.
Heftig und fließend, einem reinen Strom ganz ähnlich,
wird er Latium mit Reichtum übergießen und glücklich machen durch seine reiche Sprache;
Ausuferndes wird er unterdrücken, allzu Scharfes mit heilsamer
Sorge abmildern, wegnehmen, was an Tugend mangelt,
und den Eindruck eines Spielenden geben und dabei leiden, als ob
er jetzt einen Satyr, jetzt einen ungebildeten Zyklopen zur Schau stellt.

Praetulerim scriptor delirus inersque uideri,
dum mea delectent mala me uel denique fallant,
quam sapere et ringi. Fuit haud ignobilis Argis,
qui se credebat miros audire tragoedos
130 in uacuo laetus sessor plausorque theatro,
cetera qui uitae seruaret munia recto
more, bonus sane uicinus, amabilis hospes,
comis in uxorem, posset qui ignoscere seruis
et signo laeso non insanire lagoenae,
135 posset qui rupem et puteum uitare patentem.
Ich würde es wohl vorziehen, als irrer und unfähiger Schreiber zu erscheinen,
solange meine schlechten Werke wenigstens mich erfreuen, oder mich wenigstens täuschen,
als guten Geschmack haben zu und mit den Zähnen zu knirschen. Es gab einen recht berühmten Mann in Argos,
der meinte, er höre wunderbare Tragödien,
ein fröhlicher Herumsitzer und Klatscher im leeren Theater,
der die übrigen Pflichten des Lebens rechtmäßig beachtete
der Sitte gemäß, ja, ein guter Nachbar, ein liebenswerter Gastgeber,
ein Gefährte seiner Frau, der nachsichtig mit den Sklaven sein konnte,
anstatt zu wüten, wenn ein Siegel beschädigt war auf einer Flasche,
der einem Steinchen oder einem offenstehenden Brunnenloch ausweichen konnte.

Hic ubi cognatorum opibus curisque refectus
expulit elleboro morbum bilemque meraco
et redit ad sese: ‚Pol, me occidistis, amici,
non seruastis‘ ait, ‚cui sic extorta uoluptas
140 et demptus per uim mentis gratissimus error.‘
Nimirum sapere est abiectis utile nugis,
et tempestiuum pueris concedere ludum,
ac non uerba sequi fidibus modulanda Latinis,
sed uerae numerosque modosque ediscere uitae.
Als der nun durch die Mühen seiner Verwandten und die Heilmittel kuriert
die Krankheit dank des reinen Nieswurz ausstieß und die Galle
und wieder zu sich kam: „Beim Pollux, ihr habt mich umgebracht, Freunde,
nicht gerettet“, das sagte er:, „mich, dem ihr so die Freude entrissen habt
und mit Gewalt die ach so willkommene Geistestäuschung weggenommen habt.“
Zu viel Geschmack zu haben ist nützlich, wenn man die Späßchen losgeworden ist,
man das Spiel den Kindern überlassen hat, die noch im richtigen Alter dafür sind,
und man nicht Worten nachjagt, die man auf der latinischen Leier spielen muss,
sondern des wahren Lebens Rhythmen und Melodien lernt.

145 Quocirca mecum loquor haec tacitusque recordor:
‚Si tibi nulla sitim finiret copia lymphae,
narrares medicis; quod, quanto plura parasti,
tanto plura cupis, nulline faterier audes?
Si uolnus tibi monstrata radice uel herba
150 non fieret leuius, fugeres radice uel herba
proficiente nihil curarier; audieras, cui
rem di donarent, illi decedere prauam
stultitiam, et cum sis nihilo sapientior, ex quo
plenior es, tamen uteris monitoribus isdem?
Deswegen spreche ich zu mir selbst und wiederhole es schweigsam:
„Wenn dir keine Menge an Wasser den Durst löschen könnte,
dann würdest du es den Ärzten erzählen; dass du aber, je mehr du dir verschafft hast,
desto mehr begehrst, das wagst du keinem zu gestehen?
Wenn eine Wunde dir, nachdem sie mit Wurzel und Kraut behandelt wurde,
nicht gelindert wird, dann würdest du aufhören, mit Wurzel und Kraut
dich zu heilen, weil sie ja nichts nützen; du hattest gehört, wem die
Götter Geld gäben, den verließe die schändliche
Dummheit, und obwohl du um nichts klüger daraus wirst, dass du
reicher bist, hörst du trotzdem weiter auf die gleichen Mahner?

155 At si diuitiae prudentem reddere possent,
si cupidum timidumque minus te, nempe ruberes,
uiueret in terris te siquis auarior uno.
Si proprium est quod quis libra mercatus et aere est,
quaedam, si credis consultis, mancipat usus,
160 qui te pascit ager, tuus est, et uilicus Orbi,
cum segetes occat tibi mox frumenta daturas,
te dominum sentit. Das nummos, accipis uuam,
pullos, oua, cadum temeti; nempe modo isto
paulatim mercaris agrum, fortasse trecentis
165 aut etiam supra nummorum milibus emptum.
Aber wenn Reichtum einen klug machen kann,
wenn er dich weniger gierig und ängstlich machen kann, müsstest du erröten,
wenn auf Erden auch nur einer lebte, der geiziger ist als du.
Wenn Eigentum ist, was einer mit der Waage und Geld verdient hat,
gibt einem doch gewisse Dinge, wenn du den Juristen glaubst, der Gebrauch;
der Acker, der dich nährt, ist dein, und wenn Orbius‘ Verwalter
die Saaten auf dem Land bestellt, die dir bald Getreide geben werden,
sieht er dich als seinen Herrn. Du gibst Münzen, empfängst Beeren,
Küken, Eier, einen Weinkrug; auf diese Weise freilich
kaufst du nach und nach den Hof, der vielleicht für dreizehntausend
oder sogar noch mehr Münzen gekauft worden ist.

Quid refert, uiuas numerato nuper an olim?
Emptor Aricini quoniam Veientis et arui
emptum cenat holus, quamuis aliter putat, emptis
sub noctem gelidam lignis calefactat aenum,
170 sed uocat usque suum, qua populus adsita certis
limitibus uicina refugit iurgia; tamquam
sit proprium quicquam, puncto quod mobilis horae
nunc prece, nunc pretio, nunc ui, nunc morte suprema
permutet dominos et cedat in altera iura.
Was spielt es für eine Rolle, ob du vom eben oder einst Bezahlten lebst?
Ein Käufer aricinischen oder veiischen Landes
speist gekauften Kohl, mag er auch anderer Meinung sein, und mit gekauftem
Holz wärmt er in der Nacht den eisigen Kessel,
aber er nennt es seines bis dorthin, wo die Pappel an der festen
Grenze gepflanzt wurde und Nachbarschaftsstreitigkeiten vermeidet; als ob
irgendetwas Eigentum wäre, was zu einem Zeitpunkt beweglich werden kann,
sei es durch Bitten, durch Geld, durch Gewalt, am Ende durch den Tod
die Herren wechselt und in fremden Besitz entschwindet.

175 Sic quia perpetuus nulli datur usus et heres
heredem alterius uelut unda superuenit undam,
quid uici prosunt aut horrea? Quid Calabris
saltibus adiecti Lucani, si metit Orcus
grandia cum paruis, non exorabilis auro?
180 Gemmas, marmor, ebur, Tyrrhena sigilla, tabellas,
argentum, uestes Gaetulo murice tinctas
sunt qui non habeant, est qui non curat habere.
Weil so keinem dauerhafter Gebrauch gegeben ist und ein Erbe
einem anderen Erben wie eine Welle der nächsten nachfolgt,
was nützen da die Höfe und Kornspeicher? Und was nützen den kalabrischen
Wäldern hinzugefügte lukanische, wenn der Orcus doch
große und kleine gleichermaßen niedermäht, und man ihn mit Geld nicht bestechen kann?
Edelsteine, Marmor, Elfenbein, tyrrhenische Erzbarren, Täfelchen,
Silber, Kleider, in gaetulischem Purpur getränkt:
es gibt Leute, die das nicht besitzen, und es gibt einen, der das gar nicht haben will.

Cur alter fratrum cessare et ludere et ungui
praeferat Herodis palmetis pinguibus, alter
185 diues et inportunus ad umbram lucis ab ortu
siluestrem flammis et ferro mitiget agrum,
scit Genius, natale comes qui temperat astrum,
naturae deus humanae, mortalis in unum
quodque caput, uoltu mutabilis, albus et ater.
Warum der eine von zwei Brüdern Faulenzen, Spielen und Gesalbtwerden
den fetten Palmen des Herodes vorzieht, der andere
reich und rastlos vom Sonnenaufgang bis zum -untergang
den bewaldeten Acker mit Feuer und Sichel beackert,
weiß der Genius, der als Gefährte den Geburtsstern lenkt,
der Gott der Menschennatur, sterblich für jedes einzelne
Geschöpf, im Antlitz wandelbar, mal weiß, mal schwarz.

190 Vtar et ex modico, quantum res poscet, aceruo
tollam, nec metuam quid de me iudicet heres,
quod non plura datis inuenerit; et tamen idem
scire uolam quantum simplex hilarisque nepoti
discrepet et quantum discordet parcus auaro.
195 Distat enim, spargas tua prodigus an neque sumptum
inuitus facias neque plura parare labores,
ac potius, puer ut festis Quinquatribus olim,
exiguo gratoque fruaris tempore raptim.
Ich nutze und nehme aus meinem kleinen Haufen, soviel die Sache fordert,
und sorge mich nicht darum, was mein Erbe über mich denken mag,
wenn er nicht mehr als das Gegebene findet; und dennoch
will ich wissen, wie weit der Einfache und Heitere vom Schlemmer
entfernt ist, und wie weit der Sparsame sich vom Geizigen unterscheidet.
Denn es unterscheidet sich, ob du deine Sachen verschwenderisch rauswirfst oder ob du
gern Gelder nutzt und dich nicht mühst, mehr zu beschaffen,
oder eher, wie ein Junge einst an den fünftägigen Festen,
dich an dem winzigen willkommenen Moment im Vorübergehen freust.

Pauperies inmunda domus procul absit; ego utrum
200 naue ferar magna an parua, ferar unus et idem.
Non agimur tumidis uelis Aquilone secundo;
non tamen aduersis aetatem ducimus Austris,
uiribus, ingenio, specie, uirtute, loco, re
extremi primorum, extremis usque priores.
205 Non es auarus: abi. Quid? Cetera iam simul isto
cum uitio fugere? Caret tibi pectus inani
ambitione? Caret mortis formidine et ira?
Die schäbige Armut möge von meinem Haus fern bleiben; ob ich
auf einem großen oder kleinen Schiff getragen werde, werde ich es doch als ein und derselbe.
Wir werden nicht getrieben von geschwollenen Segeln im günstigen Nordwind;
wir leben unser Leben trotzdem nicht in feindseligen Südwinden,
an Kräften, Begabung, Schönheit, Tugend, Stellung, Besitz
Letzte der Ersten, aber Erste der Letzten.
Du bist nicht geizig: Geh fort. Was? Diesem Übel sind
auch die anderen entsprungen? Ist dir die Brust frei von leerem
Ehrgeiz? Frei von Todesfurcht und Zorn?

Somnia, terrores magicos, miracula, sagas,
nocturnos lemures portentaque Thessala rides?
210 Natalis grate numeras? Ignoscis amicis?
Lenior et melior fis accedente senecta?
Quid te exempta iuuat spinis de pluribus una?
Viuere si recte nescis, decede peritis.
Lusisti satis, edisti satis atque bibisti;
215 tempus abire tibi est, ne potum largius aequo
rideat et pulset lasciua decentius aetas.‘
Träume, magischen Schrecken, Wunder, Wahrsagerinnen,
nächtliche Nachtgespenster und thessalische Ungeheuer verlachst du?
Zählst du dankbar die Geburtstage? Verzeihst deinen Freunden?
Wirst du sanfter und besser mit wachsendem Alter?
Was hilft es dir, dass von vielen Stacheln einer herausgezogen wurde?
Wenn du nicht weißt, richtig zu leben, geh aus dem Weg für die Erfahrenen.
Du hast genug gespielt, gegessen und getrunken;
für dich ist es Zeit zu gehen, damit dich nicht, ziemlich betrunken,
das Alter, für das Leichtsinn sich besser ziemt, dich wegstößt und auslacht.

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