Epistula 1, 19

Prisco si credis, Maecenas docte, Cratino,
nulla placere diu nec uiuere carmina possunt
quae scribuntur aquae potoribus; ut male sanos
adscripsit Liber Satyris Faunisque poetas,
5 uina fere dulces oluerunt mane Camenae;
laudibus arguitur uini uinosus Homerus;
Wenn du dem alten Cratinus glaubst, gelehrter Maecenas,
können Gedichte niemandem lange gefallen und lebendig bleiben,
die von Wassertrinkern geschrieben werden; als der Bacchus die ungesunden
Dichter seinen Satyren und Faunen zugesellt hat,
da stanken die Camenen schon morgens nach süßlichem Wein;
durch sein Lob des Weines wird der weinsüchtige Homer überführt;

Ennius ipse pater numquam nisi potus ad arma
prosiluit dicenda. ‚Forum putealque Libonis
mandabo siccis, adimam cantare seueris‘:
10 hoc simul edixi, non cessuere poetae
nocturno certare mero, putere diurno.
Und selbst Vater Ennius schwang sich nie, wenn er nicht betrunken war, zum
Besingen der Waffen auf. „Forum und Puteal Libos
werde ich den Nüchternen geben und den Strengen das Singen verbieten“:
Das habe ich kaum gesagt, und die Dichter hörten nicht auf
nachts reinen Wein um die Wette zu trinken, und am Tag danach zu stinken.

Quid? Siquis uoltu toruo ferus et pede nudo
exiguaeque togae simulet textore Catonem,
uirtutemne repraesentet moresque Catonis?
15 Rupit Iarbitam Timagenis aemula lingua
dum studet urbanus tenditque disertus haberi.
„Was? Wenn einer mit düsterer Miene, wild und mit nacktem Fuß
und kurzer Toga mit dem Schneider den Cato spielen will,
repräsentiert er dann die Tugend und den Charakter des Cato?
Seine Zunge, die dem Timagenes das Wasser reichen wollte, zerbrach den Iarbita,
während er sich bemühte und versuchte, gebildet und wortgewandt zu erscheinen.

Decipit exemplar uitiis imitabile; quodsi
pallere casu, biberent exsangue cuminum.
O imatatores, seruom pecus, ut mihi saepe
20 bilem, saepe iocum uestri mouere tumultus!
Ein Vorbild, das man durch seine Fehler nachahmen kann, täuscht; wenn
man durch Zufall erbleicht, würden sie erschöpfenden Kümmeltee trinken.
Oh ihr Nachahmer, Sklavenvieh, wie oft hat euer Durcheinander mir den
Zorn, wie oft ein Lachen auf die Lippen getrieben.

Libera per uacuum posui uestigia princeps,
non aliena meo pressi pede. Qui sibi fidet,
dux reget examen. Parios ego primus iambos
ostendi Latio, numeros animosque secutus
25 Archilochi, non res et agentia uerba Lycamben;
Als erster setzte ich freie Spuren in leeres Terrain,
und habe keine fremden Spuren mit meinem Fuß berührt. Wer sich selbst vertraut,
führt den Schwarm an. Ich habe als erster die Parischen Jamben
Latium gezeigt, bin den Zahlen und den Ideen des
Archilochos gefolgt, aber nicht der Sache und den Hetzreden gegen Lycambes;

ac ne me foliis ideo breuioribus ornes
quod timui mutare modos et carminis artem,
temperat Archilochi Musam pede mascula Sappho,
temperat Alcaeus, sed rebus et ordine dispar,
30 nec socerum quaerit, quem uersibus oblinat atris,
nec sponsae laqueum famoso carmine nectit.
und dass du mich nicht deswegen mit einem kurzgeratenen Lorbeerkranz schmückst,
weil ich davor zurückschreckte, die Versmaße und die Dichtkunst zu verändern:
Sappho beherrscht die Dichtkunst des Archilochos mit männlichem Versmaß,
Alcaeus beherrscht sie, aber ungleich in Thema und Anordnung,
und er sucht sich keinen Schwiegervater, den er mit schwarzen Versen beschmieren kann,
und knüpft seiner Verlobten keinen Strick durch sein famoses Gedicht.

Hunc ego, non alio dictum prius ore, Latinus
uolgaui fidicen; iuuat inmemorata ferentem
ingenuis oculisque legi manibusque teneri.
35 Scire uelis, mea cur ingratus opuscula lector
laudet ametque domi, premat extra limen iniquus;
Den, den vorher kein Mund je erwähnt hat, habe ich als Latiner
berühmt gemacht, ich, der Odendichter; es freut den, der Unbekanntes überliefert,
dass er von standesgemäßen Augen gelesen wird und von edlen Händen gehalten.
Du willst wissen, warum ein undankbarer Leser meine Stückchen
daheim lobt und liebt, sie aber außerhalb seines Hauses ungerecht verreißt;

non ego uentosae plebis suffragia uenor
inpensis cenarum et tritae munere uestis;
non ego nobilium scriptorum auditor et ultor
40 grammaticas ambire tribus et pulpita dignor.
ich jage nicht die Meinung der launischen Plebs
mit Essensgeschenken und mit der Gabe ausgelutschter Kleider;
ich bin kein Fan und Rächer von berühmten Schreibern
und bin nicht würdig, die Philologen und Rednerpulte zu schmeicheln.

Hinc illae lacrimae… ‚Spissis indigna theatris
scripta pudet recitare et nugis addere pondus,‘
si dixi: ‚Rides‘ ait, ‚et Iouis auribus ista
seruas; fidis enim manare poetica mella
45 te solum, tibi pulcher.‘ Ad haec ego naribus uti
formido et, luctantis acuto ne secer ungui,
‚Displicet iste locus‘ clamo et diludia posco.
Ludus enim genuit trepidum certamen et iram,
ira truces inimicitias et funebre bellum.
Daher diese Tränen… „Es beschämt mich, meine unwürdigen Schriften
in den ernsten Theatern vorzutragen und den Späßchen so Gewicht zuzufügen“,
wenn ich das sagte, sagt einer: „Du lachst und bewahrst das alles für Juppiters
Ohren; du meinst, du allein könntest dichterischen Honig fließen
lassen, schön für dich selbst.“ Dagegen meine Nase zu rümpfen
fürchte ich mich und, damit ich nicht mit dem scharfen Fingernagel des Gegners gekratzt werde,
rufe ich: „Dieser Ort hier ist ungeeignet“, und fordere einen Rasttag.
Denn das Spiel bringt aufgeregten Wettstreit und Zorn hervor,
der Zorn wiederum finstere Feindschaften und blutigen Krieg.

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